Prof Groetschel Forschung

Prof. Grötschel studierte Mathematik und Wirtschaftswissenschaften von 1969-1973 an der Universität Bochum. Danach promovierte er 1977 in Wirtschaftswissenschaften an der Universität Bonn, wo er dann 1981 im Bereich Operations Research habilitierte. Von 1982 bis 1991 war er Professor für Angewandte Mathematik an der Universität Augsburg, wonach er an die TU Berlin wechselte und zusätzlich die Stelle als Vizepräsident des Konrad-Zuse-Zentrums für Informationstechnik Berlin (ZIB) antrat. Seit 2002 ist er Sprecher des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten DFG-Forschungszentrums "Mathematik für Schlüsseltechnologien". Prof. Grötschel erhielt 1995 den Leibnizpreis der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Prof. Grötschel, Sie haben Mathematik und Wirtschaft studiert, zunächst in Wirtschaft promoviert und sind dann später doch zur Mathematik gewechselt. Wie kam es dazu? Das ist einfach zu erklären. Ich bin schon richtiger Mathematiker, so wie es sich gehört, wenn man einen Lehrstuhl hat. Ich habe meine Diplomarbeit in reiner Mathematik geschrieben. Als ich damals in Bochum studierte, habe ich Spaß an wirtschaftlichen Anwendungen gefunden. Auf einer Sommerakademie der Studienstiftung des deutschen Volkes habe ich den Bereich Operations Research und ganzzahlige Optimierung kennen gelernt. Da in den 60er und 70er Jahren viele Lehrstühle für angewandte Mathematik in die anwendenden Fachbereiche „ausgelagert“ waren, habe ich am Institut für Ökonometrie und Operations Research der Universität Bonn in diesem Bereich promoviert. Mittlerweile gibt es in Deutschland aber eine erhebliche Zahl von Lehrstühlen in mathematischen Fachbereichen, die sich mit wirklichen Anwendungen der Mathematik beschäftigen.

Seit Sie 1991 Ihre Professur an der TU Berlin antraten, sind Sie auch Vizepräsident des ZIB und arbeiten seit 2002 auch am Matheon. Wie würden Sie die Zielsetzungen dieser beiden Forschungseinrichtungen kurz beschreiben? Das Konrad-Zuse-Zentrum entstand aus einer Idee des Senats, die Rechenzentren der Berliner Universitäten zu vereinen. Dann hatte Prof. Deuflhard den ausgezeichneten Einfall, dieses Rechenzentrum auch als Forschungseinrichtung auszustatten. Durch die interne Konkurrenz von Forschung und Technik um beschränkte Mittel wird erreicht, dass das Zentrum stärker kundenorientiert arbeitet und ein Gleichgewicht zwischen Forschung und Service geschaffen wird. Die Ausrichtung der Forschung des ZIB wurde in erster Linie durch Prof. Deuflhard geprägt. Wir arbeiten im Bereich der algorithmischen angewandten Mathematik und beschäftigen uns insbesondere mit der numerischen Lösung von Differentialgleichungen, der mathematischen Modellierung von Anwendungsproblemen sowie mit Optimierung und mit Diskreter Mathematik. Ich forsche hauptsächlich auf den beiden letzteren Gebieten. Das ZIB arbeitet dabei möglichst anwendungsnah mit Wissenschaftlern aus anderen Fachgebieten und mit der Industrie zusammen. Das Matheon (DFG-Forschungszentrum "Mathematik für Schlüsseltechnologien: Modellierung, Simulation und Optimierung realer Prozesse") ist eine viel größere Einheit, die die angewandten Mathematikerinnen und Mathematiker der drei Berliner Universitäten und der außeruniversitären Forschungseinrichtungen ZIB und Weierstraß-Institut für Angewandte Analysis und Stochastik [WIAS])zusammenschmiedet. Dies bietet eine einzigartige Möglichkeit, die Gebiete der angewandten Mathematik möglichst breit abzudecken und somit die sehr vielfältigen Anforderungen der Industrie bearbeiten zu können. Das Matheon konnte sich in den letzten vier Jahren durch die erfolgreiche mathematische Behandlung von schwierigen Fragestellungen in wichtigen Schlüsseltechnologien nachhaltig etablieren. Ein Beweis hierfür ist die positive Evaluierung durch die DFG Anfang 2006, ein zweiter die Gründung eines Spin-off Instituts für Finanzmathematik, das im September eröffnet und von der Deutschen Bank finanziert wird. Das Matheon hat somit eine viel weitere Ausrichtung als das Zuse-Zentrum oder das WIAS und sorgt für eine Vernetzung der angewandten Mathematik in Berlin. Ziel ist es, hier eines der führenden Forschungszentren der Welt aufzubauen.

Was sind die Projekte, an denen Sie zurzeit arbeiten und inwieweit spielt dabei Mathematik eine Rolle? Persönlich bin ich viel mit organisatorischen Tätigkeiten beschäftigt, deswegen will ich Ihnen von der Arbeit meiner Arbeitsgruppe erzählen, die aus 20-30 Mitarbeitern am ZIB besteht. Eine unserer wirklichen Stärken sind Telekommunikationsanwendungen. Sie verwenden immer Mathematik, wenn Sie z. B. Ihr Handy benutzen. Sie merken es nur nicht. Wir haben uns z. B. mit der Frequenzplanung im (alten) GSM-System beschäftigt, die hier entwickelten Algorithmen sind weltweit im Einsatz. Eines unserer Vorzeigeprojekte ist die Funknetzplanung für das neuere UMTS-Mobilfunksystem. Neben der mobilen Kommunikation arbeiten wir auch auf dem Gebiet der Planung und operativen Steuerung von Festnetzen. Einer unser unserer Kunden ist z. B. der DFN-Verein, über den alle Wissenschaftseinrichtungen ihren Internetzugang erhalten. Das Netz des DFN-Vereins muss alle zwei Monate an die tatsächliche Bedarfsentwicklung angepasst werden. Das jeweils neue (unter gewissen Nebenbedingungen kostengünstigste) Netz wird von uns berechnet. Ein anderer Bereich, der Sie wahrscheinlich interessieren wird, ist der öffentliche Nahverkehr. Wir entwerfen beispielsweise Algorithmen, um die Kosten der Berliner und anderer Verkehrsbetriebe durch Optimierung des Fahrzeug- und Fahrereinsatzes möglichst gering zu halten. Bei der Linienplanung arbeiten wir mit dem Potsdamer Verkehrsbetrieb ViP zusammen.. Ein weiteres Projekt beschäftigt sich mit der Steuerung von Aufzügen. Heutzutage bestellt man den Aufzug einfach für Fahrten nach oben oder unten. Aufzugsbauer bieten demnächst komplexere Rufsysteme an, bei denen man angeben kann, in welche Etage man will und mit wie vielen Personen Wir versuchen, die Steuerung solcher Aufzugsysteme zu optimieren. Ähnliche Fragestellungen treten in der innerbetrieblichen Logistik und bei der Steuerung von Hochregallagern auf. Auch hier arbeiten wir mit Partnern aus der Industrie zusammen. Die Aufzählung solcher Anwendung ist fast endlos, aber dies soll an Beispielen genügen.

Schon seit längerem ist die Umstrukturierung des Mathematikunterrichts an Schulen ein größeres Thema. Sie arbeiten an dem Projekt "Diskrete Mathematik an Schulen", was sind die konkreten Inhalte? Das ist auch ein wichtiges Projekt. Die Idee dazu hatte ich schon vor 20 Jahren. Sie kennen vielleicht die Situation, Sie sitzen am Schreibtisch, und dann kommt Ihr Kind zu Ihnen und fragt: " Papa, was machst du da?" So erklärte ich meiner 7-jährigen Tochter das Kürzeste-Wege-Problem der Graphentheorie. Das Problem des Schulunterrichts ist heutzutage doch, dass die Mathematik, die dort betrieben wird, mehrere hundert Jahre alt ist. Sie haben vermutlich die gleichen Aufgaben wie ich in der Schule bearbeitet. Die Idee ist einfach. Moderne Fragestellungen müssen in den Schulunterricht einbezogen werden, beispielsweise Mobilfunk. Dies interessiert jeden Schüler. Und schon können sie eine Unterrichtseinheit zur Färbung von Graphen in den Unterricht integrieren. Sie bringen den Schülern (nebenbei) bei, wie man Alltagsfragen mathematisch formuliert. Das ist viel spannender als Textaufgaben vorgesetzt zu bekommen. Eine Mitarbeiterin hat im Rahmen ihrer Promotion sehr erfolgreich für die Klassenstufen 8-13 sechswöchige Kurse mit Unterrichtsmaterialien für Schüler und Lehrer entwickelt. Das Problem der Erneuerung des Unterrichts liegt bei der Umsetzung in den Unterricht, da die Lehrpläne fast keinen Raum für solche Neuerungen zulassen.

Wo spielt Mathematik im täglichen Leben Ihrer Meinung nach eine große (die größte) Rolle? Meine Aussage dazu ist: "Mathematik ist zu einem der wichtigsten Produktionsfaktoren unserer Zeit geworden, leider merkt das kaum jemand wirklich." Gerade für die deutsche Industrie ist es wichtig, dass sie Mathematik in großem Umfang und den vorliegenden Fragestellungen angemessen einsetzt. Wir haben in Deutschland einen sehr hohen Lebensstandard und hohe Löhne, und wenn wir beides erhalten und konkurrenzfähig bleiben wollen, müssen wir irgendetwas besser machen als andere. Mathematik kann Effizienz enorm steigern und hilft, Kosten zu sparen, Ressourcen zu schonen, Produkte sicherer zu machen, etc. Beispiele, bei denen das Matheon zu derartigen Verbesserungen beiträgt, sind unter anderem Hyperthermie in der Krebsbehandlung, Gesichtschirurgie, Logistik und Transportoptimierung, Halbleiterproduktion und Verifikation von Computerchips, Nanotechnologie und die mathematische Modellierung von Risiko für Versicherungen, Banken etc. Im Prinzip gibt es kein Gebiet, wo man Mathematik nicht braucht.

Wir danken Prof. Grötschel für das Gespräch.