Guenter Ziegler ForschungProf. Ziegler ist Mathematikprofessor an der Technischen Universität Berlin, er war Präsident der Deutschen Mathematiker-Vereinigung und koordiniert die Berlin Mathematical School.

Wie sind Sie zur Mathematik gekommen?
Für mich waren die Mathematikwettbewerbe die "Einstiegsdroge". In der neunten Klasse habe ich erstmals am Bundeswettbewerb Mathematik teilgenommen und das hat mich fasziniert und motiviert. Die Aufgaben waren für mich spannend, ich habe heftig und ausdauernd daran geknobelt. Ganz unbedingt wollte ich zeigen, dass ich das kann! Fünf Jahre lang habe ich jedes Jahr mitgemacht, viel dabei gelernt, bin jedes Mal ein bisschen weiter gekommen, und habe es schließlich bis zum Bundessieger gebracht. Mathematik war für mich anfangs vor allem eine Wettbewerbssache. Allen war dann völlig klar, dass ich Mathematik studieren sollte. Ich selbst habe erst während der Vorbereitung auf das Vordiplom darüber nachgedacht, ob ich nicht hätte Medizin studieren sollen, da ich damals irgendwie der Meinung war, das sei "näher am Menschen dran". Heute glaube ich das nicht mehr! Während der Promotion habe ich dann die Frage "Ist das das richtige für mich?" endgültig mit ja beantwortet...

An welchen Projekten arbeiten Sie zur Zeit?
Der Schwerpunkt meines Arbeitsgebiets liegt in der Geometrie. Zur Zeit interessieren mich besonders vierdimensionale Polyeder und damit zusammenhängende Fragen über zwei- und drei-dimensionale Strukturen. Zusammen mit Doktoranden aus meiner Arbeitsgruppe studieren wir Extremalfragen dazu, d. h. wie "kompliziert" können solche Polyeder überhaupt sein. Das hat ganz direkte Auswirkungen auf Fragen über die Geometrie von kristallinen Strukturen und von polyedrischen Flächen im dreidimensionalen Raum. Wir arbeiten dabei immer aus zwei Richtungen: einerseits versuchen wir möglichst extreme und komplizierte Objekte zu konstruieren, und andererseits versuchen wir zu zeigen, dass es auch theoretische Grenzen für solche Konstruktionen gibt - das ist oft schwieriger, und dabei versuchen wir Methoden aus Topologie und Algebra zum Einsatz zu bringen.

Wo hat diese Mathematik ihre Anwendungen?
Für mich sind das zunächst einmal spannende mathematische Fragen: Wie kompliziert können etwa polyedrische Flächen in unserem dreidimensionalen Anschauungsraum sein? Ich mache da theoretische Mathematik. Trotzdem ist das alles nicht weit weg von Fragen von sehr großem Anwendungsbezug: Wichtige Projekte im Berliner Forschungszentrum beschäftigen sich mit der Konstruktion und der "Glättung" von polyedrischen Flächen, und das ist ein heißes Thema im sogenannten "Computer Aided Design" (CAD) und in der Computergraphik. Es steckt einfach sehr viel komplizierte Mathematik in der Frage, wie man aus Ecken, Kanten und Dreiecken möglichst glatte Flächen aufbauen kann. Dazu ist zunächst theoretisch zu klären, wann eine solche Fläche glatt heißen soll, der Begriff der Krümmung aus der Differentialgeometrie ist auf diskrete Flächen zu übertragen. Dann kann man sehen, was es für Krümmungsstrukturen gibt. Glatte Flächen und unsere Arbeit sind unterschiedliche Enden derselben Sache, wir wollen möglichst komplizierte Flächen (viel Krümmung), in der Visualisierung benötigt man möglichst glatte Flächen (wenig Krümmung). Ich glaube, dass es wichtig ist zu sehen, wo die Bögen zwischen rein theoretischer Arbeit und der Anwendung z. B. in der Automobilindustrie beim Entwurf glatter Oberflächen liegen. Man kann Verständnis anwenden!

Sie sprachen schon vom Matheon, wo liegen die Ziele dieses Projektes?
Das Matheon ist ein Projekt, das angetreten ist zu zeigen, wo die praktischen Stärken der Mathematik liegen, dass mehr Mathematik in der Praxis zu besseren Lösungen und besseren Produkten führt. Das ist ein langer Weg, vor allem deswegen, weil die Einsicht in die Stärke von Mathematik oft bei den Anwendern noch nicht gewachsen ist. Wir sind der Überzeugung, dass Mathematik eine Schlüsseltechnologie ist und dass man sich etwas vergibt, wenn man nur seinen Maschinenpark teuer ausrüstet, und nicht möglichst viel Mathematik in seine Produkte steckt. Das Matheon beschäftigt sich mit ganz verschiedenen Anwendungsbereichen, darunter Finanzmathematik, medizinische Anwendungen und Visualisierung. Für die Visualisierung, die wir als Schlüsseltechnologie für unterschiedlichste Anwendungen sehen, werden viele Teilbereiche der Mathematik benötigt.

Sie sind Präsident der DMV, was sind die Ziele der DMV und wo wird die DMV in der Öffentlichkeit sichtbar?
Die DMV hat mehr als 3500 Mitglieder, zu einem großen Teil aus Deutschland. Viele davon arbeiten an Universitäten, aber wir freuen uns auch über alle Studierenden, Lehrer und Mathematiker in der Praxis, die in der DMV mitmachen und sich von uns angesprochen fühlen. Die DMV sieht sich also als Vereinigung der Mathematikerinnen und Mathematiker an Universitäten und anderswo. Sie ist sicher ein bisschen Gewerkschaft, und sie engagiert sich als Interessenvertreterin der Mathematikerinnen und Mathematiker. Andererseits macht die DMV Interessenvertretung für die Mathematik, ist für die Öffentlichkeitswirkung der Mathematik zuständig. Sie informiert über und nimmt Stellung zu aktuellen Entwicklungen in der Mathematik, der mathematischen Forschung, in den Anwendungen, und in der Universitätspolitik, wo immer dies möglich und nötig ist. Andererseits glaube ich, dass die DMV einen wichtigen Beitrag dazu leistet, dass wir als Mathematikerinnen und Mathematiker von "wir" sprechen können. Zur Aufrechterhaltung der Kontakte findet jedes Jahr eine Jahrestagung (2006 in Bonn, 2007 in Berlin gemeinsam mit der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik) statt, um aktuelle Mathematik darzustellen, um zu sehen woran die Kollegen arbeiten, und auch um aktuelle Entwicklungen in der Mathematik zu diskutieren. Andererseits versucht die DMV, aktuelle Mathematik auch für die Öffentlichkeit darzustellen. Ein Projekt in dieser Richtung sind die Mitteilungen der DMV, eine vierteljährlich erscheinende Zeitschrift, für die ich einige Jahre als Herausgeber tätig war, ein anderes ist mathematik.de, das ich für sehr wichtig und spannend halte.

Wo wird Ihrer Meinung nach Mathematik im Alltag gebraucht?
Wo Mathematik gebraucht wird, ist eine Frage - wo Mathematik sowieso drinsteckt, eine andere. Man hat bei alltäglichen Dingen wie einem Mobiltelefon ja gar kein Gefühl dafür, wie viel Mathematik da eigentlich drinsteckt. Jedes Handy verwendet aufwändige mathematische Methoden zur Verschlüsselung und Codierung der übertragenen Daten; ähnliche Methoden stecken etwa im Internet. Beim Verwenden dieser Technologien bemerkt man dies oft nicht, weil die Hersteller viel Arbeit in benutzerfreundliche Oberflächen investieren, die die Mathematik vor den Anwendern verstecken. Genauso braucht man Mathematik in der Steuerungstechnik, zum Beispiel in jeder Aufzugsteuerung - hier wäre mehr "Mathematik drin" sicher oft hilfreich. Ein weiteres Beispiel ist der öffentliche Personennahverkehr, ein Bereich, zu dem auch das Matheon beigetragen hat. So wurden die Fahrereinsatzpläne der Berliner Verkehrsbetriebe beispielsweise von Wissenschaftlern des Matheon optimiert, auch Fahrpläne der Berliner U-Bahn. Hier gelang es, die Umsteigezeiten deutlich zur verringern, und sogar einen Zug einzusparen. Auch die Bahn hätte viel Potential, mit "mehr Mathematik" ihre Netze, Fahrpläne und Angebote zu optimieren - es wäre schön, da beweisen zu können, wie "Mathematik sich lohnt". Allgemein kann mathematische Optimierung überall dort eingesetzt werden, wo kompliziertere Vorgänge zu planen sind als "vier Kisten von links nach rechts zu schieben". Das passiert zum Beispiel am Containerterminal des Hamburger Hafens, wo derzeit studiert wird, wie mit Hilfe von Matheon-Mathematik die automatischen Transportfahrzeuge deutlich besser gesteuert werden könnten. Und noch ein Beispiel: effiziente Algorithmen für die lineare und ganzzahlige Optimierung sind nicht nur ein wichtiges Werkzeug für die internationalen Fluglinien - die Entwicklung dieser Werkzeuge wurde von den großen Fluglinien entscheidend mitinitiiert und gefördert. Der Einsatz von moderner Mathematik ist für die ein Wettbewerbsvorteil!

Wir danken Prof. Ziegler für dieses Gespräch.