Sabrina Haase. Foto: Christoph Eyrich
Wie jeder Mathematikerin liegt Sabrina Haase das Problemlösen. An der Universität Bremen hat sie gelernt, mathematische Probleme zu lösen, am benachbarten Fraunhofer Institut für Digitale Medizin MEVIS beschäftigt sie sich als Qualitäts- und Projektmanagerin für Kunden aus der Medizintechnikbranche vor allem mit Planungs-, Organisations-, und Kommunikationsproblemen. Ihre Motivation dabei: medizinische Diagnose und Therapie mit Hilfe von Software zu verbessern. Auch um soziale Probleme macht die Mathematikerin keinen Bogen. Im Gegenteil: Denen widmet sie sich als Gleichstellungsbeauftragte.
Frau Haase, sind Sie wie die meisten Mathematikerinnen und Mathematiker, mit denen ich spreche, auch über einen Leistungskurs Mathematik in der Schule zum Mathematikstudium gekommen?
Ich habe mich schon während der Schulzeit für Mathematik interessiert. In der Oberstufe habe ich aber den Grundkurs gemacht, weil bekannt war, wer den Leistungskurs unterrichten würde. Und dieser Lehrer war kein großer Freund von Frauen in der Mathematik. Nach dem Abitur habe ich mich dann beim Arbeitsamt beraten lassen und die sagten, wenn ich schlau wäre, würde ich Mathematik studieren. Dann fand ich noch heraus, dass man hier in Bremen Mathematik mit Chemie im Nebenfach studieren kann. Dafür habe ich mich entschieden, und dabei ist es dann auch geblieben. Von selbst wäre ich allerdings nicht darauf gekommen, obwohl ich schon immer starkes Interesse an Mathematik hatte.
Es ist ihnen in der Schule sozusagen ausgetrieben worden.
Genau.
Nach dem Abschluss Ihres Studiums haben Sie direkt angefangen, auf ihrem heutigen Fachgebiet, der medizinischen Anwendung, zu arbeiten.
Ja, ab 2009 habe ich beim Zentrum für komplexe Systeme und Visualisierung, genannt CEVIS, gearbeitet, das war damals ein Institut der Uni mit enger Verbindung zu MEVIS Research, was heute das Fraunhofer-Institut ist. Ich kam über eine Veranstaltung im siebten Semester dorthin, die Mitarbeiter des CEVIS angeboten haben: „Therapieplanung mit numerischer Mathematik“. Bis dahin wusste ich nicht genau, was ich beruflich machen möchte, ich wusste nur, dass es nicht Reine Mathematik sein sollte, und die Veranstaltung hörte sich so schön angewandt an. Also habe ich sie besucht und dann bei den Dozenten meine Diplomarbeit geschrieben.
Worüber?
Es ging um die Optimierung eines minimalinvasiven, nadelbasierten Therapieverfahrens für die Leber, die sogenannte Radiofrequenzablation. Dabei wird von außen eine Nadel mit Elektroden in den Tumor gestochen, und durch die elektrische Energie, die man einbringt, werden Gewebe und Proteine denaturiert und zerstört.
Man verödet die krankhaften Zellen.
Ja, und ich habe mich mit der Frage beschäftigt, wie diese Nadel unter Berücksichtigung von Risikostrukturen, wie den Rippen, platziert werden muss, so dass man möglichst das gesamte Tumorgebiet zerstört.
Und das gesunde Gewebe schont. War das eine Softwareanwendung?
Genau. Ich habe Software geschrieben, die einem die beste Platzierung der Nadel unter den gegebenen patientenindividuellen Nebenbedingungen liefert. Das Thema war also im Bereich der mathematischen Optimierung angesiedelt.
Was ist es an der Kombination von Mathematik, Programmierung und Medizin, das sie so begeistert?
Was wirklich schön ist, ist, dass es einen Impact hat. Dadurch, dass wir für Unternehmen und deren Medizinprodukte die Software zuliefern, hat man das Gefühl, dass man was bewirken kann.
Wie ist das bei dem EU-geförderten Projekt Trans-Fusimo, das Sie seit 2014 gemanagt haben?
Hier haben wir versucht, eine ultraschallgetriebene Therapie in den klinischen Einsatz zu bringen, ebenfalls für die Leber. Dieses Verfahren, es heißt Highintensive Focused Ultrasound (HIFU), auf Deutsch: hochfrequenter gebündelter Ultraschall, wird bei Uterusmyomen, bei Knochenmetastasen oder Prostatakrebs bereits angewendet, aber für Organe wie die Leber, die sich mit der Atmung bewegen, gibt es das noch nicht in der klinischen Routine.
Was sind die Vorteile, wenn beispielsweise ein Leberkarzinom auf diese Art undWeise entfernt wird.
Der größte Vorteil ist, dass Patienten keine Vollnarkose bekommen und dass man den Tumor ziemlich genau treffen kann. Ohne Schnitt und ohne Nadel.
Patienten erholen sich schneller.
Ja, minimales Trauma, nennen wir das. Die Patienten werden nur örtlich betäubt. Die Schwierigkeit ist, dass sich die Leber bewegt. Das heißt, man muss eine Vorhersage darüber treffen, wo sich der Punkt, den man abladieren möchte, in den nächsten Millisekunden hinbewegen wird, und das ziemlich genau.
Welche Expertise musste zusammenkommen, um eine Lösung zu finden?
Fraunhofer MEVIS war nicht nur Projektkoordinator, sondern auch verantwortlich für die Software, die das steuert. Die haben wir nicht allein entwickelt, die ETH Zürich hat sich beispielsweise um die Vorhersage der Bewegung gekümmert. Insgesamt waren wir elf Partner, darunter drei Kliniken. Wir hatten vier Firmen, die sich unter anderem mit den Ultraschall-Transducern, dem Ultraschallkopf, beschäftigt haben, oder die sich sehr gut mit Magnetresonanztomographie (MRT) auskennen.
Bei diesem Verfahren kommt nicht nur UItraschall, sondern auch MRT als bildgebendes Verfahren zum Einsatz.
Genau, wir benutzen therapeutischen Ultraschall und diagnostisches MRT. Der Patient liegt in der MRT-Röhre und dort, wo die Leber ist, ist ein rundes dosenartiges Gerät aufgeschnallt. Es ist durch eine Membran an den Körper gekoppelt, damit die Ultraschallwellen eindringen können. So ein Ultraschallkopf enthält 1024 Ultraschallelemente und diese müssen einzeln elektronisch so gesteuert werden, dass die Ultraschallwellen sich in einem Punkt überlagern. Das heißt, wir müssen sämtliche Elemente innerhalb von Millisekunden auf eine neue Phase der Atmung einstellen. Dafür muss das MRT kontinuierlich Bilder aufnehmen, vom Atemstatus zum Beispiel oder auch vom Fortschreiten des Nekrosegebiets, also des Bereichs, wo das Gewebe schon zerstört ist.
Neben den technischen, was sind die Herausforderungen im Projekt- und Qualitätsmanagement?
Die Interdisziplinarität. Die Beteiligten sitzen verteilt über ganz Europa und in Israel. Es gibt unterschiedliche Mentalitäten und unterschiedliche Berufe: Radiologen und Mathematiker, Ingenieure, Informatiker, Physiker.
Was ist so schwierig?
Die Kommunikation. Genau zu verstehen, was der andere meint. Die Kliniker sprechen eine andere Sprache als wir. Wir sprechen sehr technisch und müssen dann so formulieren, dass sie uns auch verstehen.
Ihre Arbeit klingt für mich nach extrem anspruchsvollem Multitasking. Sie müssen die Modellierung und Simulation von biophysikalischen Prozessen verstehen, sich mit MRT-Bildgebung auskennen, mit Projektmanagement und Qualitätskontrolle, mit Programmierung und medizinischen Therapien – wie behält man da denÜberblick?
Das haben Sie gut zusammengefasst, genauso so fühle ich mich manchmal (lacht). Das Verständnis für die verschiedenen Themen muss man natürlich haben. Bei der biophysikalischen Modellierung und Simulation fällt mir das nicht besonders schwer – das ist der Bereich aus dem ich komme. Für die MRT-Physik haben wir Experten im Haus. Wenn ich mal etwas nicht verstehe, dann ziehe ich die hinzu. Für die Softwareentwicklung gilt das gleiche. Ich habe schon Software geschrieben, trotzdem würde ich mich nicht als Softwareentwicklerin bezeichnen. Aber wenn es beispielsweise darum geht, auf dem Papier zu prüfen, ob der Code das tut, was er tun soll, dann verstehe ich, was da steht. In das Projekt- und Qualitätsmanagement bin ich in den letzten fünf Jahren sehr tief eingestiegen. Das ist mittlerweile meine Kernkompetenz.
Welche Aufgaben sind konkret damit verbunden.
Das EU-Projekt, das Ende 2018 nach fünf Jahren ausgelaufen ist, habe ich intern gemanagt und auch das Konsortium insgesamt. Ich hatte also die 5,6 Mio. Euro, die hier ausgegeben wurden, zusammen mit dem wissenschaftlichen Koordinator in der Hand. Es ging darum, die Projektpartner zu dirigieren und Aufgaben zu verteilen. Was das Qualitätsmanagement angeht, ist es so, dass Fraunhofer MEVIS nach einer bestimmten ISONorm zertifiziert ist. Das heißt, wir haben hier intern ein Qualitätsmanagement-System und dafür bin ich mit verantwortlich. Dann gibt es den Bereich Qualitätssicherung. Das heißt, wenn ein Kunde einen Algorithmus von uns einkaufen will, dann soll das Tool das und das können, in der und der Laufzeit, unter den und den Bedingungen und jenes Ergebnis bringen. Dann müssen wir diese Spezifikationen abprüfen, wobei abprüfen sehr einfach klingt. Wir schreiben einen Haufen Dokumentation: über die Interna der Algorithmen, über Tools, die wir verwenden, um die Software zu entwickeln, über Tests, die wir gemacht haben – bei der letzten Lieferung umfasste die Dokumentation 320 Seiten.
Für einen Algorithmus?
Für einen Algorithmus.
Wie sieht ihr Arbeitsalltag aus?
Die ersten Jahre habe ich hauptsächlich programmiert. Mit den neuen Aufgaben sind viele Konferenzen und Meetings hinzugekommen, mit Kunden, mit Kollegen, mit Projektteams. Ich sitze zwar immer noch viel am Computer, aber an manchen Tagen habe ich das Gefühl, keine Minute im Büro gesessen zu haben. Ich kommuniziere ständig, das kann man so sagen.
Arbeiten Sie hier auch mit anderen Mathematikerinnen und Mathematikern zusammen?
Definitiv. Wir haben hier viele Mathematikerinnen und Mathematiker, aber auch Informatiker und Physiker. Die arbeiten in der Regel noch stärker mathematisch als ich.
Bedauern Sie, dass Mathematik mittlerweile für Sie im Beruf kaum noch eine Rolle spielt?
Nein. Ich glaube, ich tue genau das, was ich gut kann. Kommunizieren, planen, Dinge durchzustrukturieren.
Wie finden Mathe-Studierende einen Einstieg in diesen Bereich?
Auf jeden Fall sollten sie Interesse für das Thema Medizin haben und möglichst schon ein Praktikum während des Studiums machen.
Welche mathematischen Kompetenzen helfen weiter?
Numerik und Partielle Differentialgleichungen, das wird gebraucht. Darüber hinaus ist Programmieren essenziell. An der Universität Bremen haben wir mit Medical Computing mittlerweile einen Masterstudiengang für den Bereich.
Sie engagieren sich auch in der Nachwuchsförderung. Was tun sie konkret?
2011 habe ich das erste Mal einen Workshop im Rahmen der Kinderuni in Bremen angeboten. Seitdem habe ich das Programm mit auf- und ausgebaut. Mit meiner Kollegin biete ich alle paar Wochen einen Workshop an für Schüler, für Lehrer und für Studierende zum Thema: Einführung in die medizinische Bildverarbeitung. Außerdem betreue ich hier die Schülerpraktikanten.
Warum liegt Ihnen diese Aufgabe so am Herzen?
Weil ich meine Begeisterung für diese Themen so gerne weitergeben möchte. Und zwar besonders an Schülerinnen und Schüler, die noch gar nichts mit MINT-Fächern am Hut haben. Mit der Anwendung in der Medizin können wir wunderbar zeigen, warum es lohnt, sich mit Mathematik oder Informatik zu beschäftigen.
Ist Mathematik für Sie eher Beruf, oder ist auch Berufung dabei?
Es ist schon Berufung. Man muss Spaß daran haben. Wenn man das rein als Beruf macht und als Pflicht sieht, dann wäre das zumindest für mich nichts.
Neben ihren eigentlichen beruflichen Aufgaben setzen Sie sich bei Fraunhofer MEVIS auch für Ihre Kolleginnen und Kollegen ein.
Ja, ich war einige Jahre Vertrauensperson, das ist eine Art Ersatz, weil wir keinen Betriebsrat haben, und jetzt bin ich stellvertretende Beauftragte für Chancengleichheit.
Was reizt Sie daran?
Ich löse eben gerne Probleme.
Auch solche menschlicher und sozialer Art.
Ja, das gilt generell, denn ich bin ein sehr friedliebender Mensch.
Frau Haase, ich danke Ihnen für dieses Gespräch!
Das Gespräch führte Kristina Vaillant,
freie Journalistin in Berlin.
www.vaillant-texte.de