Wer Tanja Teuber an ihrem Arbeitsplatz beim Technologieunternehmen Zeiss besuchen möchte, muss hinauf auf die Schwäbische Alb, in das knapp 8000 Einwohner zählende Städtchen Oberkochen. Denn hier, inmitten von Wiesen, Feldern und bewaldeten Hügeln, baute das US-Militär nach dem Zweiten Weltkrieg gemeinsam mit Ingenieuren und Wissenschaftlern von Carl Zeiss in Jena ein neues Werk im Westen auf. Tanja Teuber kam 2013 als Entwicklerin und Expertin für Bildverarbeitung und Inverse Probleme zu Zeiss. Mittlerweile leitet sie dort als „Head of Algorithms“ die Abteilung für Algorithmik im Bereich Corporate Research & Technology.
Tanja Teuber. Foto: ZEISS
Frau Teuber, welche Rolle spielt Ihre Abteilung im Unternehmen?
Zeiss hat ein sehr breites Produktportfolio, organisiert in vier Sparten: Semiconductor Manufacturing und Medical Technology sowie Industrial Quality & Research und Consumer Markets. Die Produkte reichen von Brillengläsern oder Equipment für den Augenoptiker über Hochpräzisionsoptiken für die Mikrochip-Herstellung bis hin zu Licht-, Elektronen- und Röntgenmikroskopen. Auch Bildgebungsgeräte für den Augenarzt, Operationsmikroskope für den Neurochirurgen oder diverse Lösungen für die industrielle Qualitätskontrolle sind Teil des Produktportfolios. Als zentrale Forschungsabteilung unterstützen wir alle Sparten bei der Entwicklung von neuen, innovativen Lösungen für die verschiedenen Kundengruppen.
Wie sieht diese Unterstützung konkret aus?
Die Algorithmik umfasst bei uns Bereiche von Machine Learning, Computer Vision, Computational Imaging bis hin zu Optik- und physikalischer Simulation. Unser Auftrag ist es zu beobachten, was es hier an neuen Entwicklungen und Trends gibt, im akademischen wie auch im industriellen Umfeld. Wir schauen, welchen Mehrwert eine Entwicklung für ein neues Produkt oder für die Weiterentwicklung bestehender Produkte haben könnte. Hier machen wir den verschiedenen Bereichen Vorschläge und zeitgleich können diese auch mit Anfragen auf uns zukommen, wenn sie sich Unterstützung für eine Technologiestudie oder ein Entwicklungsprojekt wünschen. Wir schauen uns zunächst die Machbarkeit an und entscheiden dann, ob wir in eine gemeinsame Produktentwicklung gehen. Als Algorithmikerin begeistert mich hier immer wieder die Vielfalt der Fragestellungen, die sich aus den diversen Anwendungsmöglichkeiten und dem breiten Produktportfolio ergeben.
Welches Produkt wurde mit Hilfe der Algorithmik weiterentwickelt, haben Sie ein Beispiel?
Im Bereich Machine Learning haben wir zum Beispiel mit unseren Computertomographie (CT)-Kollegen bereits vor ein paar Jahren eine auf Deep Learning basierende, automatische Defekt-Detektionslösung für unsere Industrie-CT-Geräte realisiert.
Das müssen Sie erklären . . .
Stellen Sie sich vor, ein Automobilhersteller will prüfen, ob ein Bauteil, zum Beispiel der Zylinderkopf eines Motors, defektfrei ist bevor er weiterbearbeitet und in das Fahrzeug eingebaut wird. Das Industrie-CT erlaubt, eine Volumenaufnahme vom Innern des Bauteils zu machen und zu prüfen, ob es Risse oder größere Poren gibt, die vielleicht morgen zu Qualitätsproblemen am Fahrzeug führen. Dabei geht es nicht nur darum alle defekten Bauteile herauszufiltern, sondern auch darum, die verschiedenen Defekttypen und -abmessungen zu bestimmen und diese Informationen für die Verbesserung des Produktionsprozesses zu verwenden. Mit unserer Lösung wird die Inspektion der Bauteile nach einer Trainingsphase vollautomatisch und integriert in der Produktionslinie durchgeführt, sodass keine manuelle Prüfung mehr nötig ist.
Sie sind Expertin für Algorithmen, mit denen sich die Bildaufnahme optimieren lässt. Wie sind Sie dazu gekommen?
Ich habe im integrierten Studiengang Mathematik und Informatik an der Universität Mannheim studiert. Das kam mir sehr entgegen, denn ich war immer hin- und hergerissen zwischen Mathematik und Informatik, ich fand beides unheimlich spannend. Im dritten Semester wurde ich darauf aufmerksam, dass es in Mannheim einen Lehrstuhl für angewandte Mathematik mit Schwerpunkt Bildverarbeitung gab. Ab dem vierten Semester habe ich dort mitgearbeitet und mich dadurch relativ früh mit entsprechenden Algorithmen beschäftigt. Auch meine Diplomarbeit habe ich im Bereich Bildverarbeitung geschrieben. Da mich das Themenfeld sehr interessiert hat, war es relativ schnell klar für mich, auch noch eine Promotion anzuschließen.
In ihrer Doktorarbeit haben Sie neue Methoden entwickelt, worum geht es genau?
Ich habe mich hauptsächlich mit Denoising-Methoden beschäftigt, das sind digitale Methoden zur Verringerung von Rauschen in Bildern. Zusätzlich habe ich mich mit neuen Verfahren befasst, mit denen sich die Optimierungsprobleme dahinter effizienter lösen lassen. Wir haben sogenannte Splitting-Algorithmen auf Entrauschungsprobleme angewendet, aber auch auf Entfaltungsverfahren, mit denen man Unschärfe aus Bildern entfernen kann.
Welche Rolle spielen solche Algorithmen für die Produktpalette von Zeiss?
Es gibt direkte Anknüpfungspunkte. Wenn Sie zum Beispiel Entfaltungsverfahren nehmen, dann ist ein klassischer Anwendungsbereich die Mikroskopie: Sie wollen eine Probe noch detaillierter auflösen, als es das Mikroskop selbst erlaubt? Wenn Sie wissen, wie der optische Strahlengang durch das System verläuft und damit auch wie die Unschärfe im Bild entstanden ist, können Sie diese mittels Entfaltung verringern. Eine spannende Frage ist, wie man diese Verfahren weiter verbessern kann. Eine Möglichkeit ist die Verwendung von Deep Learning, also Machine-Learning-Verfahren. Als Mathematikerin schaue ich meist etwas anders auf solche Fragestellungen: Ob es Machine Learning, Computer Vision oder Bildverarbeitungsmethoden sind, es stehen mathematische Verfahren dahinter und diese sind häufig mit dem Lösen eines Optimierungsproblems verknüpft. Das Spannende ist, dass man diese schnell auf andere Domänen anwenden kann, wenn man die Grundkonzepte dahinter verstanden hat. Und das ist auch eine Stärke, die wir als Zentralbereich in das Unternehmen einbringen.
Mittlerweile sind Sie an der Entwicklung der mathematischen Lösungen selbst nicht mehr beteiligt. Was sind Ihre Aufgaben als Managerin?
Zu meiner Abteilung gehören etwas mehr als 30 Mitarbeiter in Oberkochen, Jena und München, ein Kollege ist in Pleasanton, Kalifornien. Wir sind überwiegend Physiker, Informatiker und Mathematiker. Die Abteilung ist unterteilt in drei Teams mit jeweiligem Teamleiter, die sich um die operativen Themen im Projektalltag kümmern. Das heißt, meine Rolle als Abteilungsleiterin besteht eher darin, übergeordnete Themen zu koordinieren und voranzutreiben. Das beinhaltet, dass ich mitbekomme, was wichtige Entwicklungen im und außerhalb des Unternehmens sind. Wenn es Themen zu besprechen gilt, dann besuche ich auch – zumindest in normalen, nicht von Corona geprägten Zeiten – unsere Bereiche, zum Beispiel in den USA oder in Shanghai, um mir vor Ort ein Bild davon zu machen, welchen Bedarf es gibt. Ich bin auch regelmäßig in Jena oder München, um den Kontakt zu den Entwicklungsbereichen in Deutschland zu halten. Insofern bin ich häufig das Bindeglied zu anderen Unternehmensbereichen. Auch Strategiediskussionen zu unterstützen ist Teil meines Jobs. Gerade in einem Themenfeld wie Machine Learning, in dem es noch viele offene Fragen gibt wie: Was ist mittels neuester Deep-Learning-Verfahren noch möglich? Was ist leichter oder aufwendiger zu realisieren?
Gibt es Tätigkeiten oder Aufgaben, die Sie besonders mögen?
Ich bin jemand, der schon immer die Vielfalt geliebt hat. Ich lerne unheimlich gerne dazu, das kann etwas Technisches sein, das können aber auch Zusammenhänge oder Softskills sein. Spannend sind für mich derzeit Strategiefragen oder auch explorative Fragestellungen, bei denen es darum geht neueste technologische Möglichkeiten für ganz neue Anwendungen zum Einsatz zu bringen. Eine spannende Frage ist aus meiner Sicht, was im Bereich Medizintechnik, Digitalisierung und Machine Learning in den nächsten Jahren entstehen wird. Das mitzugestalten ist etwas, was mir unheimlich Spaß macht.
Im Prinzip begleiten Sie also den gesamten Prozess – von der Idee bis zur Umsetzung.
Ja, und ich freue mich immer zu sehen, was am Ende daraus entsteht. Natürlich wird nicht aus jeder Idee auch ein Produkt. Wir wären viel zu vorsichtig, wenn wir nur das verfolgen würden, was wir am Ende garantiert realisieren können. Stattdessen probieren wir vieles aus und verfolgen die vielversprechendsten Ideen weiter.
Was muss zusammenkommen, damit aus einer Innovation ein Produkt wird?
Es müssen im Wesentlichen drei Aspekte zusammenkommen: der Anwendernutzen, die technologische Machbarkeit und die Profitabilität für das Unternehmen. Sie müssen den Match hinbekommen zwischen der technologischen Idee und dem Mehrwert für den Kunden, aber auch für die Firma.
Und genau das ist Ihre Aufgabe.
Ja, aber selbstverständlich nie allein. Es ist immer wichtig zu verstehen, was ein Geschäftsfeld gerade jetzt oder in absehbarer Zukunft braucht, was hilfreich und was weniger hilfreich ist. Aber das ist etwas, was man als Manager mit der Zeit lernt, und man lernt auch, wen man fragen kann, wenn man eine Frage nicht selbst beantworten kann. In Technologieunternehmen werden viele Ideen erst einmal aus der Technologie heraus vorangetrieben und dann muss man es schaffen, die Brücke zum Kundennutzen und zu den Businessaspekten zu schlagen. Man darf auch nicht vergessen, wie wichtig zum Beispiel Vertriebskanäle sind. Die beste Lösung nützt nichts, wenn der Vertrieb sie nicht zu den Kunden bringen kann.
Fehlt Ihnen die Mathematik oder das Entwickeln in Ihrer heutigen Position?
Nein, ich bin viel zu beschäftigt, um irgendetwas zu vermissen. Es ist etwas, was einfach durch viele andere Aufgaben ersetzt wird.
Ist Mathematik trotzdem für Sie ein Stück weit Berufung?
[lacht] Eine Frage, die, glaube ich, in allen Ihren Interviews vorkommt.
Stimmt, jedenfalls in fast allen.
Ehrlich gesagt fällt es mir schwer, sie zu beantworten. Für mich ist Mathematik einfach eine unheimlich gute Denk-Stütze. Sie lässt mich anders über Dinge nachdenken. Beispielsweise betrachte ich die quartalsweise Kapazitätsplanung ganz unweigerlich als Optimierungsproblem mit gewissen Randbedingungen, das es zu lösen gilt. Für mich ist die Mathematik eher ein Denk-Gerüst und eine Hilfestellung. Und das möchte ich nicht missen.
Sie haben sich im Studium schon früh Richtung Bildverarbeitung als Anwendungsgebiet orientiert. Welchen Rat können Sie Mathematikerinnen und Mathematikern geben, die diesenWeg einschlagen möchten?
Ich glaube, das Wichtige ist, dass man sich schon im Studium damit auseinandersetzt, welche Fächerkombination günstig für welche Berufsrichtung ist und was zu einem passt. Wenn man heute zum Beispiel in den Bereich Data Science oder Machine Learning gehen will, dann ist eine gute Grundlagenausbildung in Informatik und Mathematik nützlich, aber auch Programmierkenntnisse und solides Fachwissen in der jeweiligen Domäne.
Und was sollte man mitbringen, wenn man zu Zeiss möchte?
Je nach Stelle achten wir schon sehr auf einschlägiges Fachwissen und auf das Potenzial, aber auch das Interesse, das jemand für eine Stelle mitbringt. Bei mir in der Abteilung gehört alles rund um Machine Learning, Computer Vision, Bildverarbeitung oder eben auch optische Simulation zu den Kernkompetenzen. Darüber hinaus ist uns natürlich die Persönlichkeit wichtig. Ist jemand ein Teamplayer, der sich und seine Fähigkeiten ins Team einbringt und Dinge selbstständig und proaktiv vorantreibt? Auch die Entwicklungsperspektive zählt. Bei Zeiss bleiben Mitarbeiter sehr lange, im Schnitt etwa 18 Jahre. Wenn Sie als Manager jemanden rekrutieren, wäre es fatal, wenn Sie nur darauf achteten, was ein Bewerber heute kann. Ich will auch verstehen, was ich jemandem in ein paar Jahren zutrauen kann.
Sie haben in den letzten Jahren zahlreiche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für Ihre Abteilung rekrutiert, gab es Probleme, Bewerber nach Oberkochen zu bringen?
Das ist durchaus eine Herausforderung, da gerade die Fachgebiete in unserer Abteilung am Arbeitsmarkt sehr stark nachgefragt sind. Man muss aber auch nicht in Oberkochen wohnen, wenn einem der Ort zu klein ist. Es gibt wenige Kilometer weiter sehr nette Städte wie Aalen mit 60 000 Einwohnern. Wenn man einen ruhigen Ort für die Familie sucht und ein Häuschen bauen will, dann ist die Gegend eigentlich perfekt. Und: Sie ist bei Outdoorbegeisterten sehr beliebt.
Frau Teuber, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Das Gespräch führte Kristina Vaillant,
freie Journalistin in Berlin.
www.vaillant-texte.de