Wir treffen Flight Dynamics Engineer Sofya Spiridonova in einem der kleineren Kontrollräume des Deutschen Raumfahrtkontrollzentrum (GSOC) auf dem weitläufigen Campus des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Oberpfaffenhofen bei München. Die promovierte Mathematikerin wird demnächst viel Zeit im Kontrollraum verbringen. Denn im Sommer soll ein Kommunikationssatellit des Europäischen Datenrelais Systems (EDRS) ins All geschossen werden – Spiridonova und ihre Kollegen überwachen dann von hier aus die kritische Phase: Sie beginnt mit dem Raketenstart in Kourou, Französisch-Guayana, und sie endet, wenn der Satellit seinen Platz im geostationären Orbit gefunden hat.

SpiridonovaSofya Spiridonova. Foto: Christoph Eyrich

Frau Spiridonova, Sie haben sich nach dem Mathematikstudium in Moskau entschieden, an der Technischen Universität München Luft- und Raumfahrt zu studieren. Warum?

Raumfahrt hat mich schon immer interessiert. Ich bin mit Sciencefiction-Büchern aufgewachsen und mein Lieblingsautor war Isaak Asimov. Ich mochte einfach die Idee, dass die Menschheit im All eine neue Welt erkundet. Eigentlich komme ich aus der reinen Mathematik, da arbeitest du nur mit Stift und Papier, ohne Rechner, also keine angewandte Mathematik, sondern rein abstrakte Mathematik. Ich habe aber beruflich für mich in der reinen Mathematik keine Möglichkeiten gesehen, es gibt nur eine begrenzte Anzahl von Stellen an der Uni – oder man wechselt eben in einen anderen Bereich. Das haben viele meiner Studienkameraden gemacht. Sie sind in den Bereich Finanzen oder Informatik gewechselt, unter anderem zu Facebook und Google. Ich bin die einzige, die sich für Raumfahrt entschieden hat.

Sie haben sowohl Ihre Diplomarbeit als auch Ihre Doktorarbeit auf dem Gebiet der Reinen Mathematik geschrieben.

Ja, beide im Bereich der Hopf Algebras und beide beim selben Betreuer. Die Mathematik ist ein weites Feld, und auch das Gebiet der Algebra ist groß. Wenn man sich dann in ein Thema einarbeiten und zu Ergebnissen kommen möchte, dann muss man sich schon einige Zeit darauf konzentrieren.

Gibt es denn irgendeine inhaltliche Verbindung zur Raumfahrt?

Nein, gar keine. Hopf Algebras sind abstrakte mathematische Strukturen. Da sind bestimmte Operationen definiert, die bestimmte Bedingungen erfüllen, und meine Arbeit befasste sich damit, aus diesen Definitionen und den bekannten Eigenschaften mehr Erkenntnisse über diese Strukturen abzuleiten und sie zu klassifizieren. Soweit ich weiß, gibt es sehr viele Anwendungen im Bereich Theoretische Physik, Quantenfeldtheorie und Stringtheorie, aber keine in der Raumfahrt.

Nach Ihrem Studienabschluss an der TU München sind sie 2012 hier ans Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) gekommen.

Ja, ich hatte mich für eine Masterarbeit beworben. Das Thema bekam ich von Michael Kirschner, einem der erfahrensten Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Flugdynamik. Nach der Masterarbeit wurde mir dann eine Stelle angeboten.

Was machen Sie genau als Flight Dynamics Engineer?

In der Flugdynamik-Gruppe befassen wir uns mit der Bestimmung der Bahnen für unsere Satelliten, damit wir immer möglichst genau wissen, wo sie sich befinden; das ist unter anderem für die Bodenstationen wichtig, damit sie ihre Antennen richtig ausrichten und Kontakt herstellen können. Außerdem machen wir Manöver-Planung. Abhängig von den Anforderungen der jeweiligen Missionen kann es notwendig sein, in der Routinephase regelmäßig Manöver auszuführen, um den Satelliten in der Bahn zu halten. Wir begleiten auch die Launch and Early Operations Phase von Satellitenmissionen, abgekürzt LEOP. Das ist die kritischste Phase einer Mission: Der Satellit startet mit der Rakete, dann trennt er sich ab, und es gibt bald den ersten Kontakt mit der Bodenstation. Darauf folgt die erste Bahnbestimmung. Wir sehen, wie die Einschussfehler sind, denn bei jedem Start, bei jeder Rakete kann sich die Genauigkeit, mit der der Satellit in die Umlaufbahn geschossen wird, unterscheiden. Dann bringen wir den Satelliten mit unseren Manövern in seine Bahn. LEOP ist immer die aufregendste Phase einer Mission. Manchmal begleiten wir ausschließlich diese Phase einer Mission und übergeben den Satelliten dann an unseren Kunden, manchmal bleibt der Satellit aber auch über Jahre bei uns. Dann kümmern wir uns um den Routinebetrieb. Ab und zu erstellen wir auch Machbarkeitsstudien für Projekte, bei denen noch unsicher ist, ob sie überhaupt realisiert werden. Eine weitere Aufgabe unserer Gruppe ist Kollisionsvermeidung.

Ich nehme an, da geht es um Weltraumschrott, etwa Überreste verglühter Satelliten, die mit mehreren zehntausend Kilometer pro Stunde durch den Orbit jagen.

Ja, wir bekommen Warnungen vom Joint Space Operations Center der US-Luftwaffe, wenn Kollisionen drohen, und wir rechnen dann nach, weil wir die genaueren Bahndaten für unsere Satelliten haben. Wir können genauere Wahrscheinlichkeiten bestimmen.

Wie viele der rund 1400 Satelliten im All werden vom German Space Operation Center des DLR „betreut“?

Da muss ich nachzählen. Es sind zwei Radarsatelliten, TerraSAR-X und TanDEM-X für die Erdbeobachtung und dann noch zwei im GRACE Follow-On Projekt in Kooperation mit dem Jet Propulsion Laboratory der NASA für die Bestimmung des Gravitationsfeldes der Erde. Dann gibt es noch drei weitere Satelliten in der erdnahen Umlaufbahn, also in etwa 400 bis 600 Kilometer Höhe: BIROS, TET und EuCROPIS. Das sind schon sieben. Und dann haben wir noch zwei Satelliten im geostationären Orbit, das heißt, sie fliegen mit der Erdrotation mit, befinden sich also immer etwa über dem gleichen Punkt über der Erdoberfläche. Im Sommer wird ein weiterer geostationärer Satellit starten. Er gehört zum European Data Relay Satellite System (EDRS).

Welche Funktion hat dieser Satellit?

Der ist in erster Linie dazu da, die Datenübertragung zur Erde zu verbessern. Es gibt sehr viele Erdbeobachtungssatelliten wie zum Beispiel die Sentinel-Satelliten aus dem Copernicus-Programm der European Space Agency (ESA). Wenn diese Satelliten in der erdnahen Umlaufbahn kreisen, dann haben sie aus geometrischen Gründen nur etwa zehn Minuten Kontakt zu einer Bodenstation, nur in diesem Zeitfenster fliegen sie über der Bodenstation hinweg.

Und nur das kann für die Datenübertragung genutzt werden.

Ja. Aber wenn darüber ein geostationärer Satellit fliegt, dann hat er über ein Drittel des Orbits Sichtbarkeit mit dem erdnahen Satelliten, das heißt, die Möglichkeit Signale zu übertragen. So kann man den geostationären Satelliten als Relais nutzen, denn dieser ist für die Bodenstation permanent sichtbar.

Können Sie anhand der EDRS-Mission erläutern, welche Aufgaben Sie konkret haben?

Unsere Aufgaben sind bei den geostationären Satelliten EDRS-A und EDRS-C unterschiedlich. Der EDRS-A Satellit wird von Eutelsat betrieben. Genauer gesagt betreut das Unternehmen den Bus, und wir betreiben die Nutzlast, das Laser-Communication-Terminal, das auf die Satelliten in der erdnahen Umlaufbahn ausgerichtet ist. Wir bereiten die Kommandos dafür vor. Das heißt, wir berechnen die Richtung, in die das Laser-Communication- Terminal schauen muss.

Sie steuern von hier aus das Gerät, das der Satellit transportiert.

Ja, wir nennen das Nutzlast. Bei dem zweiten EDRSSatelliten, EDRS-C, der im Sommer startet, werden wir nicht nur die Nutzlast betreiben, sondern auch den Satelliten selbst. Das heißt, wir machen LEOP und auch die Routinephase danach: Bahnbestimmung, Bahnkorrekturen und alles, was dazu gehört.

Was heißt das genau?

Wir sind jetzt in der Phase der Umsetzung. Das heißt, unser Softwaresystem wurde bereits designt. Wenn eine neue Mission kommt, dann muss immer als erstes die Software entwickelt werden. Es gibt zwar Komponenten, die wir immer wieder verwenden können, da sie generisch aufgebaut sind. Weil die Manöver-Planung aber bei jeder Mission anders ist, muss Software neu entwickelt und auch von der Algorithmik her neu designt werden. Danach wird das als Code implementiert und getestet. Es gibt unsere interne Flugdynamik-Simulation, wo wir unsere eigenen Software-Komponenten testen, und dann gibt es noch GSOC-interne Integration-Tests zusammen mit den Subsystemingenieuren, die die Kommandos hochschicken.

Wenn im Sommer der zweite Satellit der EDRS-Reihe ins All geschossen wird, sitzen Sie dann auch hier im Kontrollraum?

Ja, in der LEOP-Phase arbeiten wir hier in Schichten, weil das die kritische Phase ist. Je nach Mission sind manchmal 24 Stunden abgedeckt, manchmal gibt es einige Stunden Pause. Im Sommer wird hier sehr viel Action sein!

Und wie lange dauert so eine kritische Phase?

Das hängt von der Mission ab, und davon ob ein Satellit in die erdnahe Umlaufbahn geschossen wird oder ob es sich um einen geostationären Satelliten handelt. Bei einem geostationären Satelliten ist die LEOP generell deutlich länger.

Der fliegt Im Unterschied zum erdnahen Satelliten in etwa 36 000 Kilometer Entfernung von der Erde.

Ja, und bis der in seiner Position im Orbit angekommen ist, kann es dauern. 2017 dauerte das bei einem bauähnlichen Satelliten zwei Wochen. Die Satelliten sind anfangs in einem sehr exzentrischen Orbit, dann führt man mehrere Manöver durch, bis man eine schöne Kreisbahn erreicht. Danach folgen kleinere Manöver, um den Satelliten in seiner vorgesehenen Box zu positionieren. Jeder Satellit braucht einen Slot im geostationären Orbit, damit er fix über der Erde „hängen“ kann. Nur so können die Satellitenantennen auf den Dächern und Balkonen darauf ausgerichtet werden.

Wo liegen mathematisch gesehen die Herausforderungen?

Generell schwierig ist, dass wir sehr genaue Vorhersagen treffen müssen. Bei der Manöver-Planung zum Beispiel müssen wir den Orbit vorhersagen, damit wir berechnen können, wie groß die Manöver sein müssen. Aber bei dieser Vorhersage müssen viele Störeinflüsse berücksichtigt werden, der Luftwiderstand zum Beispiel, bei dem die Präzision der Vorhersage ziemlich niedrig ist. Man muss mit Unsicherheiten rechnen, aber trotzdem die Strategie so robust gestalten, dass sie zuverlässig funktioniert – auch im Notfall. Man muss mit großen Toleranzen rechnen. Wenn ein Manöver ausfällt, muss sichergestellt sein, dass es zu keiner Kollision kommt. Das sind algorithmische Schwierigkeiten.

Wie sieht Ihr Arbeitsalltag aus?

Jeder von uns arbeitet natürlich an mehreren Projekten gleichzeitig. Aber Software-Entwicklung gehört schon zu den Aufgaben, die öfter vorkommen. Manchmal unterstützen wir auch Proposals, die bei der ESA eingereicht wurden. Das sind oft sehr aufregende Missionen. Zum Beispiel haben unsere Kollegen vom Institut für Planetenforschung in Berlin im Rahmen des ESA Cosmic Vision Programms vorgeschlagen, einen Satelliten zum Mars zu bringen, um die Herkunft und Evolution der Marsmonde Phobos und Deimos zu erkunden. Wir haben sie mit Berechnungen unterstützt.

Und was gehört zu Ihren Lieblingstätigkeiten, etwa die aufregende LEOP-Phase zu begleiten?

Ja, das mache ich sehr gerne. Aber auch wenn eine neue Mission reinkommt und dafür die Software entwickelt werden muss, dann ist das spannend. Manchmal ist mathematische Optimierung Teil der Aufgabe. Zum Beispiel wenn der Satellit ausgehend von einem Anfangsorbit einen bestimmten Punkt oder einen bestimmten Orbit innerhalb einer bestimmten Zeitspanne mit möglichst wenig Treibstoff erreichen soll, dann ist das ein Optimierungsproblem. Und so etwas bearbeite ich sehr gerne. Oder wenn man Aufgaben hat, die mit der komplexen Bahntheorie zu tun haben. Da ist dann wirklich viel anspruchsvolle Mathematik dabei. Einmal durfte ich tatsächlich mit Stift auf Papier aus Bewegungsgleichungen Relativbahnparameter für den Formationsflug ableiten und das auf einer Flugdynamikkonferenz präsentieren. Das finde ich ganz schön, aber ich mag auch die Arbeit am Rechner.

Welche Programmiersprachen muss man dafür beherrschen?

Ich habe die Hauptsprache, die hier verwendet wird, also Fortran, erst gelernt, als ich meine Masterarbeit geschrieben habe. Wenn man schon mal eine Programmiersprache beherrscht, dann lernt man jede neue leicht hinzu. Wir arbeiten auch mit C/C++ und inzwischen auch viel mit Python.

Was würden Sie sagen, ist Mathematik für Sie Beruf oder doch Berufung?

Wahrscheinlich weder noch. Wenn sie meine Berufung wäre, dann wäre ich sicher bei der reinen Mathematik geblieben. Und Beruf ist die Mathematik hier nur am Rande. Mathematik ist zwar durchaus präsent, aber zum Einsatz kommt eher die Mathematik der ersten paar Studienjahre. Im Studium habe ich viele Theoreme und Beweise aus Funktionalanalysis, Differentialgeometrie und abstrakter Algebra auswendig lernen müssen, das kann ich hier alles nicht anwenden – leider, muss ich sagen. Aber Analysis, Lineare Algebra und Statistik, das ist alles wirklich sehr hilfreich für diesen Beruf.

Was sollte man schon im Studium bedenken, wenn man beruflich in Richtung Raumfahrt gehen möchte?

Ich glaube, Mathematikstudenten, die sich für Raumfahrt interessieren, sollten einfach beim nächstgelegenen Bodenkontrollzentrum nachfragen. Ganz egal, ob sie reine oder angewandte Mathematik studieren, sie sind immer willkommen bei uns. Was wir hier machen, das lernt man „on the job“. Mit einem Mathematik-Studium ist man hier gut aufgehoben!

Frau Spiridonova, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

 

Das Gespräch führte Kristina Vaillant,
freie Journalistin in Berlin.
www.vaillant-texte.de