Hausaufgaben in der Schule, Unterricht zu Hause: Daniel Soll, unser Mathemacher der Monate August und September, dreht mit dem Konzept Flipped Classroom den vielgescholtenen Matheunterricht in Deutschland auf links. Flipped Classroom (oder inverted Classroom) ist ein Lehr- beziehungsweise Lernkonzept, bei dem die zwei Säulen des Unterrichtes – Die Stoffvermittlung und die zugehörigen Übungen – vertauscht werden: Die Schüler*innen eignen sich dabei die Lerninhalte, häufig in Form von Lernvideos, selbstständig zu Hause an, die Zeit in der Schule hingegen wird genutzt, um den Stoff zu üben. Die Lehrkraft fungiert dabei weniger als Dozent*in, sondern eher als Coach, der den individuellen Lernprozess begleitet.

SollDaniel Soll
(Foto: Studio Lackmann, Marburg)

In Deutschland stieß flipped classroom bislang auf überschaubare Nachahmung; zwar wird es Universitäten und Fachhochschulen von einer steigenden Zahl von Dozent*innen erprobt; an deutschen Schulen allerdings sind Lehrer*innen, die dazu bereit sind, ihr Klassenzimmer auf den Kopf zu stellen, rar gesät.
Daniel Soll ist einer von ihnen. Auf seinem Youtube-Kanal behandelt der 45-jährige Quereinsteiger aus Marburg zahlreiche schulmathematische Themen wie lineare Gleichungssysteme, den Satz des Pythagoras oder quadratische Funktionen. Die Videos sind frei zugänglich und bieten eine Fülle von selbst erstellten Animationen und anschaulichen Beispielen.

Wir haben uns mit ihm über Flipped Classroom, den Quereinstieg in das Lehrerdasein und Frustration unterhalten.

Insbesondere seit den diesjährigen Abituraufgaben wird viel hierzulande viel über den Mathematikunterricht diskutiert. Schüler*innen beklagen zu schwere Aufgaben, Eltern den Unterrichtsausfall, und Didaktiker*innen die Inhalte. Was beklagen Sie?

Der Mathematikunterricht erscheint mir in der Tat manchmal wie eine piñata, auf die von allen Seiten eingeschlagen wird, in der Hoffnung, es komme etwas dabei heraus. Als Praktiker steht man dann vor einem Brei, den zu viele Köche zu verderben drohen. Zwischen all den philosophischen und methodischen Erwägungen, die in der Praxis kaum eine Rolle spielen, wird ein zentrales Element aber merkwürdigerweise nie unter die Lupe genommen: das Lehrwerk. Hier ist man ganz auf die Verlage angewiesen, die sich nicht gerade durch Innovation hervortun. Ich träume von einem Online-Lehrbuch auf der Basis von Wikipedia, an dem alle interessierten Lehrer mitschreiben können, in das Geogebra und Tabellenkalkulationsprogramme integriert sind. Die technischen Voraussetzungen sind schon lange gegeben, die rechtlichen werden wohl noch Jahre auf sich warten lassen.

Aus Fachkreisen heißt es, viele Schüler*innen seien durch die Schule nicht ausreichend auf ein Studium mit mathematischen Inhalten vorbereitet. Sie sind gleichzeitig Dozent an der Frankfurt UAS (Frankfurt university of applied sciences) und kennen daher beide Welten. Woran liegt es, dass sich der Übergang von der Schule an die Hochschule oftmals so schwer gestaltet?

Gut ein Drittel eines Jahrgangs macht Abitur. Sicherlich werden nicht alle diese Schüler über das Talent verfügen, ein mathematisches Studium zu bewältigen, obwohl ihnen eine allgemeine Hochschulreife attestiert wird. Von diesen abgesehen wird es aber auch einen großen Teil Studierender geben, die mit der selbständigen Arbeitsweise nicht zurechtkommen. Hat man die Hausaufgaben meistens erledigt, kann man in der Schule durch „Binge-learning“ am Tag vor der Klassenarbeit noch eine passable Zensur erreichen. Die Schulpflicht wiederum gewährleistet die regelmäßige Anwesenheit.

An der Hochschule herrscht keine Anwesenheitspflicht, es ist langfristige und gewissenhafte Vorbereitung gefragt, oft mit unklarer Handlungsanweisung: Soll man das Skript Schritt für Schritt durcharbeiten oder auf den Übungszettel starren, für den man keinen Ansatz findet? Oder doch besser googlen? Hier spielen die informellen Lerngruppen eine besondere Rolle. Zurückhaltende Studierende können dann schnell den Anschluss verlieren. Der soziale Anteil des Hochschulerfolgs wird in Deutschland allzu oft den Fachschaften alleine überlassen. Vergleicht man das mit dem Collegesystem in Oxford oder Cambridge, merkt man, dass es dort noch Luft nach oben gibt.

Welche Erfahrungen haben sie mit Flipped Classroom gemacht? Was sind die Vorteile?

Im flipped classroom wollen wir die gemeinsame Zeit von Lehrern und Lernenden optimal nutzen. Leere Unterrichtszeiten, die zum An-/Abschreiben der Tafel gebraucht wurden, werden in die Hausaufgaben verlagert: Die Schüler schauen die Erklärungen zuhause als Video an, halten diese im Regelheft fest und notieren sich ggf. Fragen. Problemlos können sich die Schüler Videos im verlangsamten oder beschleunigten Tempo einmal oder mehrfach anschauen. Erkrankte Schüler können den Lerninhalt leicht nachholen. Im Unterricht rechnen wir gemeinsam Aufgaben, das Lösungsbuch liegt stets bereit, damit sich die Schüler selbst korrigieren können. Der große Vorteil ist, dass ich im Unterricht den Schülern nun viel besser individuell helfen kann.

sie auf jedem Niveau spannende Entdeckungen bereithält.

Gibt es auch schlechte Erfahrungen?

Der Unterricht rieselt nicht mehr als Einheitsregen auf die Schüler nieder, der Lernerfolg hängt nun stärker an der Eigeninitiative. Das Formulieren von Unklarheiten muss erlernt werden, auch ein reifer Umgang mit dem Lösungsbuch. Bis dies bei den Schülern ankommt, kann bei einigen eine gewisse Zeit vergehen, die nicht immer als angenehm empfunden wird. Die erworbene Selbständigkeit, so hoffe ich, zahlt sich dann spätestens beim Übergang zur Oberstufe und Universität aus.

Profitieren bei flipped Classroom nicht nur die motivierten Schüler*innen, während sich unmotivierte aufgrund von Angst oder Frustration die Videos gar nicht erst anschauen?

Die Schüler dokumentieren die Videos im Regelheft, um das Schauen kommt keiner herum (lacht). Das Medium kann nur sehr kurzfristig zur größeren Motivation beitragen, da darf man sich, glaube ich, nichts vormachen, auch wenn die Kleineren es „cool“ finden, einen Youtuber als Lehrer zu haben. Es gelingt mir durch die Methode aber häufiger, mit den weniger Motivierten ins Gespräch zu kommen. Individuelle Zuwendung kann da oft mehr bringen als eine Anwendungsaufgabe zum Thema Fußball.

Wie kommen Ihre Lehrmethoden im Kollegium an? Spielt Ihr Status als Quereinsteiger dabei eine Rolle?

Das Kollegium ist wohlwollend neugierig, einige haben meinen Kanal abonniert. Als Quereinsteiger werde ich, glaube ich, nicht mehr wahrgenommen. Im kommenden Schuljahr möchte ein Kollege mit einsteigen. Neulich waren allerdings mal zwei Referendare im flipped classroom zu Besuch. Die wurden ganz blass, als sie auf die vielen verschiedenen Schülerfragen antworten sollten. Da war einfach eine gewisse Unsicherheit vorhanden, ob man dem inhaltlich immer gewachsen ist. Im klassischen Unterricht ist eine gezieltere Vorbereitung möglich. Als Mathematiker kann man das vielleicht besser aushalten.

LINKS:

Youtubekanal von Daniel Soll