Walter Schubert, geboren in Göppingen, ist seit sechs Jahren Fachkoordinator im Fach Mathematik an der Deutschen Schule in Shanghai Hongqiao. Im Gespräch mit uns erläutert er wie wichtig Erfolgserlebnisse auch für schwächere Schüler*innen sind und wie wichtig der Alltagsbezug im Mathematikunterricht ist.
Lieber Herr Schubert, wie kam es dazu, dass Sie sich für eine Lehrtätigkeit an einer Auslandsschule in China entschieden haben?
Nachdem ich, zusammen mit meiner Frau, bereits sechs Jahren lang an der Deutschen Schule in Istanbul tätig war, haben wir uns vor sieben Jahren entschlossen ein zweites Mal ins Ausland zu gehen. Der ferne Osten erschien uns sehr reizvoll, da China als „Land der Mitte“ auf eine lange Geschichte und Kultur zurückblicken kann, die völlig andersartig zu der unsrigen ist.
Worin liegen die Unterschiede zwischen dem chinesischen und deutschen Schulsystem im Fach Mathematik?
Im chinesischen Schulsystem wird großer Wert auf das Fach Mathematik gelegt. In allen Jahrgangsstufen ist die Stundenzahl im Fach Mathematik deutlich höher als in Deutschland. Dabei werden Jungen und Mädchen gleichermaßen gefördert. Besonders erwähnenswert ist, dass im Vergleich zu Deutschland auch viele Mädchen Mathematik und andere naturwissenschaftliche Fächer studieren. Da wir an der Schule den deutschen Lehrplan erfüllen müssen, bleibt nur wenig Zeit, um Schnittstellen mit der chinesischen Kultur nachzugehen. Wenn möglich, werden aber Rechentricks aus der chinesischen Mathematik in den Unterricht eingebaut.
Die Deutsche Schule Shanghai ist eine MINT-Schule. Neben vielen AG-Angeboten (z. B. Robotics) und Teilnahme an zahlreichen Wettbewerben (Känguru-Wettbewerb, Mathematik ohne Grenzen, Lange Nacht der Mathematik), gibt es zwei Besonderheiten. In der Region Südostasien veranstalten die deutschen Auslandschulen jedes Jahr ein sogenanntes Mathecamp, an dem begabte Schüler der Jahrgangsstufen 10 und 11 teilnehmen können. Dabei bieten Kollegen der teilnehmenden Schulen Seminare zu Themen (z. B. sphärische Geometrie) an, die über den Lehrplan hinausgehen. Außerdem wird bis zur Jahrgangsstufe 9 sowohl Förderunterricht für Schüler, die Schwierigkeiten im Fach Mathematik haben, als auch „Forderunterricht“ für mathematisch begabte Schüler angeboten.
Welchen Hintergrund haben die Schüler und Schülerinnen an Ihrer Schule?
Die Schüler und Schülerinnen kommen sowohl aus deutschen Familien, bei denen die Eltern für eine bestimmte Zeit als "Expats" in Shanghai arbeiten, als auch aus gemischten Familien, die langfristig in Shanghai leben. Da viele Mütter bzw. Väter als Ingenieure oder Manager für international engagierte deutsche Firmen tätig sind, haben die Schüler oft eine positive Grundeinstellung gegenüber der Mathematik und den Naturwissenschaften.
Worin besteht für Sie heute die Faszination Mathematik?
Mathematik ist eine universelle Sprache und ist etwas global Verbindendes. Als Beispiel erinnere ich mich an den Besuch einiger chinesischer Kinder, die kein Deutsch sprachen, im Unterricht der 10. Klasse. Sie folgten interessiert der Stunde zur Einführung in die Differentialrechnung und diskutierten nach der Stunde eifrig. Die begleitende Lehrerin verriet mir, dass die Schüler dieses Thema noch nicht behandelt hatten, aber die Grundideen verstanden hatten.
Wodurch ist Ihre Begeisterung für das Fach geweckt worden?
Mein ursprüngliches Interesse galt der Physik. Phänomene des Alltags zu verstehen und zu berechnen war von jeher faszinierend für mich. Hinter scheinbar einfachen Vorgängen wie der Abkühlung einer heißen Tasse Tee verbergen sich oft Prozesse, die nur mit Hilfe der Mathematik zu entschlüsseln sind. Insbesondere beim Studium der Diplomphysik habe ich die höhere Mathematik zu schätzen gelernt. Auf relativ wenigen Grundlagen (Axiomen) basiert ein komplexes Gebilde aus Zusammenhängen. Besonders begeistert haben mich zum Beispiel Fraktale, die zu einem gewissen Maß Mathematik und Kunst miteinander verbinden.
Nutzen Sie die Phänomene des Alltags als Beispiele auch in Ihrem Mathematikunterricht?
Ja, ich mache andere in meiner Umgebung auf interessante Phänomene aufmerksam, wie z. B. Lichteffekte, und bei Interesse erkläre ich den Hintergrund. Auch bei Überschlagsrechnungen zu alltäglichen Problemen (wie Finanzierungen oder der Zeitdauer zur Entschlüsselung eines Passworts) fordere ich andere zum Mitdenken auf. Wenn jemand den Taschenrechner zückt oder an einfachen Prozentrechnungen scheitert, erkläre ich einfache Wege zum Lösen des Problems ohne Hilfsmittel.
Wie begeistern Sie auch leistungsschwächere Kinder für Mathematik?
Ich versuche den Unterricht so zu gestalten, dass zum einen auch schwächere Schüler Erfolgserlebnisse haben können, und zum anderen begabte Schüler durch knifflige Aufgaben zum Weiterdenken angeregt werden. Dabei versuche ich durch einfache und klare Erklärungen komplexe Zusammenhänge nachvollziehbar darzustellen. Zusätzlich stelle ich, wenn möglich, den Alltagsbezug heraus. In der 8. Klasse lasse ich z. B. die Dichte eines Schülers bestimmen. In der 11. Klasse habe ich z. B. Sensitivität und Spezifität von Corona-Tests mit den Schülern diskutiert. Sehr motivierend finden Schüler auch Bastelaufgaben, bei denen mathematische Gesetzmäßigkeiten herausgefunden oder angewendet werden.
Sie und die diesjährigen Preisträger*innen sehen alle sehr strahlend aus bei der Überreichung des Mathematik-Abiturpreises der Deutschen Mathematiker Vereinigung.
Ja, die Preisträger haben sich sehr über die Auszeichnung gefreut und haben alle ein Studium im naturwissenschaftlich-technischen Bereich begonnen. Ich mache immer wieder deutlich, dass Mathematik die Grundlage für viele Studiengänge ist, bei denen man das zunächst gar nicht vermutet (z. B. BWL, Psychologie etc.). Die Mathematik regt die Kreativität auf besondere Weise an und bietet Beschäftigungsmöglichkeiten in vielen Bereichen.
Wie wird Mathematik in Corona-Zeiten unterrichtet, wie lange war die Schule dieses Jahr geschlossen?
Anfang Februar wurde die Deutsche Schule in Shanghai geschlossen. Ab Ende April wurde die Schule schrittweise wieder geöffnet, so dass ab dem 2. Juni der Schulbetrieb im vollen Umfang stattfinden konnte. Das Online-Learning in den Monaten März - Mai konnte mit Hilfe unserer IT-Abteilung bereits in der ersten Woche der Schulschließung starten. Jede Woche wurden ein bis zwei Stunden online unterrichtet. Außerdem wurde über die Plattform gechattet und Arbeitsaufträge wurden erteilt und besprochen. Einige Kollegen versorgten die Schüler auch mit selbst erstellten Lernvideos.
Haben Sie außer der Mathematik noch weitere Leidenschaften?
Immer wieder tauche ich ab in die Unterwasserwelt, um die Schwerlosigkeit und diese andere Art von Welt zu genießen.
Ich wünsche Ihnen und Ihrer Frau weiterhin alles Gute in China,
vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Beate Klompmaker.
Foto: Deutsche Schule Shanghai / Sam Chen