Antje Kiesel:
Thoralf Räsch:
Wie haben Sie den Mathematikunterricht zu Schulzeiten wahrgenommen?
Antje Kiesel: Ich hatte in Mathe immer Spaß, vor allem wenn es ums Verstehen, Knobeln, Anwenden ging. Und ich hatte einen tollen Mathelehrer, der uns für die Mathematikolympiade begeistert hat.
Thoralf Räsch: Gute Lehre startet mit dem richtigen Gefühl der Wertschätzung einander gegenüber. Dann lernt man gemeinsam und gegenseitig, wobei die eine Seite der anderen akademisch die Hand reicht und durch das Wissen führt, basierend auf einer fundierten akademischen Ausbildung. Das ist nicht nur im Schulunterricht wichtig. Wenn ich diese Situation damals in meinem Mathematikunterricht vorfand, war das auch immer gewinnbringend für alle.
Lassen Sie uns nun über ihre aktuellen Projekte sprechen. Was hat es mit der Idee der mathematischen Stadtspaziergänge auf sich?
Antje Kiesel: Die mathematischen Spaziergänge sollen den Unterricht bereichern. Die Übungsstunde wird nach draußen verlagert. Die Schülerinnen und Schüler können die gelernte Mathematik außerhalb des Klassenzimmers in ihrer Lebenswelt erleben.
Thoralf Räsch: Mathematik lässt sich überall in unserem Alltag finden und so auch unterwegs auf einem Spaziergang. Gemeinsam in der Gruppe an alltäglichen Orten soll es besonders Spaß machen, quasi nebenher echte Mathematik zu betreiben.
Wie fing alles an und wie hat sich das Projekt im Laufe der Jahre entwickelt?
Antje Kiesel: Die Spaziergänge entstanden im Rahmen von Bachelorarbeiten von Lehramtsstudierenden der Mathematik an der Universität Bonn. Danach haben wir ein Projektteam gebildet. Einige der Studierenden blieben ehrenamtlich dabei. Zusammen haben wir dann die Aufgaben so redaktionell überarbeitet, dass wir sie veröffentlichen konnten. Eine Mediendesignerin und ein Fotograf haben uns unterstützt, bis wir die erste Broschüre in den Händen hielten.
Thoralf Räsch: Mittlerweile fahren wir zweigleisig. Zum einen gibt es jedes Jahr eine weitere Kohorte an neuen Lehramtsstudierenden mit Bachelorarbeiten zu diesen Themen; zum anderen arbeiten wir in einem flexiblen Projektteam an der Aufarbeitung der Aufgaben für eine potentielle weitere Bereitstellung.
Wo befindet sich Mathematik im Stadtgebiet von Bonn oder in der Umgebung? Bitte nennen Sie zwei Beispiele.
Antje Kiesel: Auf dem Dach der Bundeskunsthalle befinden sich Kegel und eine Pyramide. Wir haben die Volumenbestimmung dieser Körper in den Mittelpunkt einer Aufgabe gestellt und die Vektorrechnung an diesen Objekten in einer anderen Aufgabe thematisiert.
Thoralf Räsch: Der Rosengarten am Fuße der alten Abtei auf dem Michaelsberg im Herzen Siegburgs lädt dazu ein, mittels Strahlensätzen und Dreisatz die Höhen der alten Mauer zu berechnen und nebenher die schönen Beetflächen etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.
Wie wird das Projekt angenommen?
Antje Kiesel: Erfreulicherweise sind die Schulen begeistert. Der Erfolg im Sommer 2019 nach der Veröffentlichung der ersten Broschüre hat uns selbst überrascht. Die Schulen bestellen Klassensätze bei uns und ziehen dann eigenständig im Unterricht mit den Broschüren los.
Thoralf Räsch: Wir am Hausdorff-Zentrum für Mathematik investieren grundsätzlich schon viel Energie auch in Projekte für die Öffentlichkeit und Schulen. Mit unserer Arbeit reihen wir uns ganz erfolgreich ins Gesamtgefüge ein. Die durchweg sehr positive Resonanz von den Spaziergängen hat uns dann aber auch überwältigt.
Gab es Corona-bedingt dieses Jahr mehr Nachfrage als sonst, da es sich ja um eine Aktivität an der frischen Luft handelt?
Antje Kiesel: Wir haben im Sommer 2020 zwei weitere Broschüren veröffentlicht. Danach erreichten uns wieder Bestellungen und wir wissen auch von Klassen, die Spaziergänge in diesem Sommer durchgeführt haben. Auch in Corona-Zeiten ist das ja möglich. Dennoch war, wohl wegen der Corona-Pandemie, die Nachfrage nicht ganz so groß wie 2019.
Thoralf Räsch: Umso mehr war es schön zu sehen, wie dankbar einige Lehrerinnen und Lehrer die Spaziergänge gerade zu Beginn des neuen Schuljahres nach dem Corona-Sommer angenommen haben, denn als Schüler*innengruppe an der frischen Luft gemeinsam Mathematik zu betreiben, war auch unter Hygieneregeln ein großer Spaß.
Bitte nennen Sie ein paar positive Erlebnisse oder Kommentare von Lehrer*innen und Schüler*innen.
Antje Kiesel: Hier ein paar Zitate aus unserem Feedbackformular: „Ich finde diesen Spaziergang super, gerade auch als Vorbereitung auf die zentrale Klausur.“ oder „Die Schüler haben in Gruppen in einer Art Wettbewerb gearbeitet und waren sehr motiviert, möglichst viele Aufgaben in einer vorgegebenen Zeit zu bearbeiten.“
Thoralf Räsch: In einem UniBonnTV-Video über einen exemplarischen Spaziergang strahlt Lehrer Robert Schwick vom Anno-Gymnasium in Siegburg mit den Worten „Sie sehen einen glücklichen Mathelehrer. Meine achte Klasse hat Mathe gemacht, macht immer noch Mathe, ich krieg‘ die jetzt gar nicht hierher, die sitzen immer noch da vorne, diskutieren, rechnen, ...“ So soll es sein!
Wissen Sie, wie viele Schulklassen oder Schulen Ihr außerschulisches Angebot wahrnehmen?
Antje Kiesel: Das wissen wir tatsächlich nicht genau, denn wir sind in der Regel ja nicht dabei. Da aber regelmäßig Klassensätze der Broschüren bestellt werden, sind es sicher einige.
Thoralf Räsch: Das Schöne an diesen Broschüren ist es ja gerade, dass wir gar nicht unbedingt mitbekommen, wann eine Schulklasse einen Spaziergang macht. Das passiert einfach. Und immer mal wieder erreichen uns von ganz anderen Lehrerinnen und Lehrern Anekdoten, was an einem Spaziergang geschehen ist, weil sie jemanden kennen, der einen solchen in seiner oder ihrer Klasse absolviert hat. Das ist wirklich schön dann zu hören und macht uns glücklich.
Haben Sie auch Spaziergänge für andere Städte in der Region entwickelt oder geplant?
Antje Kiesel: Es gibt derzeit zwei Broschüren für Bonn (Sekundarstufe I und II) sowie eine Broschüre mit Aufgaben in Siegburg.
Thoralf Räsch: Ja, aber es geht uns nicht um irgendeine Art Vollständigkeit. Außerdem reihen sich unsere Spaziergänge auch in ähnlich gelagerte Projektideen von Kolleginnen und Kollegen andernorts gut ein. Wir stärken mit diesen drei Heften aktuell gerade den größten Teil des großen Einzugskreises der Universität Bonn in der Region Bonn/Rhein-Sieg-Kreis.
Wie wird das Projekt finanziert und wie soll es in Zukunft weitergehen?
Antje Kiesel: Wir werden von der Joachim Herz Stiftung und vom Hausdorff-Zentrum für Mathematik unterstützt. Dadurch können wir den Schulen der Rhein-Sieg-Region derzeit die Broschüren sogar kostenlos zur Verfügung stellen. Geplant ist nun eine überregionale Ausweitung des Angebots: mit Aufgaben an flexiblen Lernorten, sozusagen vor der Haustür einer jeden Schule.
Thoralf Räsch: So schnell gehen uns die Ideen nicht aus. Mit den flexiblen Lernorten kann man gefühlt jede Art Mathematik an jeden Ort beliebig tragen. Dabei bauen wir natürlich auf die Kreativität der Leserinnen und Leser, auch passende Lernorte in ihrer Umgebung (wieder-) zu erkennen.
Haben Sie weitere Projekte dieser Art in der Pipeline?
Antje Kiesel: Ja, wir haben noch viele Ideen. Die geplanten Aufgaben mit flexiblen Lernorten werden die Schülerinnen und Schüler auf den Sportplatz um die Ecke, zu symmetrischen Bauwerken, an große Straßenkreuzungen oder Bachläufe führen. Überall kann Mathematik entdeckt werden. Die Schüler schätzen, messen und rechnen. Unser Ziel ist ein umfangreiches Sortiment mathematischer Spaziergänge für alle Klassenstufen, welches im Prinzip von jeder Schule genutzt werden kann.
Thoralf Räsch: Es ist viel Arbeit, aber so lohnenswert. Der Vorteil der Mathematik als universelle abstrakte Wissenschaft lässt sich ja wunderbar auf verschiedene Orte übertragen, beim Volumen einer Litfaßsäule geht es ja nicht konkret um das eine Objekt, sondern mehr um das Wissen der Volumenberechnung eines Zylinders.