Olga Pollex, Tino Sell und Swetlana Nordheimer engagieren sich seit vielen Jahren in der Förderung mathematisch begabter Tauber und schwerhöriger Kinder und Jugendlicher. Denn weil die Aufgaben der Mathematik-Wettbewerbe in deutscher Schriftsprache für die meisten Tauben und schwerhörigen Kinder nicht barrierefrei sind, besteht großer Bedarf an der Entwicklung von Konzepten und Aufgabensammlungen mit Unterrichtsmaterialien für Gebärdenmathematik.
Olga Pollex. Quelle: Screenshot von Taubwissen |
Tino Sell. Quelle: privat |
Swetlana Nordheimer. Quelle: privat |
Gemeinsam mit gebärdensprachlichen Studierenden entwickelten unsere aktuellen Mathemacher*innen im Jahr 2022 unter Leitung von Maike Beyer, mit fachsprachlicher Rezension von Dr. Ingo Barth und in Kooperation mit dem Team des Wettbewerbs Känguru der Mathematik sowie dem Bonner Matheclub den ersten Mathe-Adventskalender in Deutscher Gebärdensprache (DGS).
Das Projekt wurde 2023 und 2024 im Rahmen des Projektes „STEM Methodologies in Sign Languages“ unter Leitung von Prof. Christian Rathmann und Gabriele Unterhitzenberger an der Humboldt-Universität zu Berlin fortgeführt.
Olga Pollex (Ernst-Adolf-Eschke-Schule in Berlin) und Tino Sell (Wilhelm-von-Türk-Schule in Potsdam) haben Mathematik und Gebärdensprach- und Audiopädagogik studiert. Sie beherrschen mehrere (Gebärden-)sprachen. Swetlana Nordheimer (Humboldt-Universität zu Berlin) studierte Mathematik, Blinden- und Gehörlosenpädagogik. Wir sprachen mit dem engagierten Team aus Forschenden und Lehrkräften. Hier Ihre Antworten.
Wie haben Sie als junger Mensch seinerzeit selbst zur Mathematik gefunden?
Olga: In der Schule verstand ich Mathematik vor allem als Rechnen mit Zahlen, viel Algebra und Kopfrechnen. Ich beschloss, Mathematik zu studieren, weil Lehrkräfte damals stark gesucht wurden. An der Uni merkte ich schnell, dass universitäre Mathematik etwas ganz anderes ist, und musste quasi bei null anfangen.
Tino: Schon in der Schulzeit war ich gut in Mathematik und habe in der DDR-Zeit viermal an der Mathematik-Olympiade teilgenommen. Mathematik hat mich fasziniert und macht mir viel Spaß. Einmal hat der Mathematiklehrer zu mir gesagt: „Du wirst später Mathematik studieren.“ Nach langen Umwegen habe ich das Mathematikstudium auf Lehramt absolviert.
Swetlana: Mein Vater, Wladimir Nordheimer, war Mathematiklehrer und wurde als Ehrenlehrer Kasachstans ausgezeichnet, weil er viele junge Menschen für Mathematik und Mathe-Olympiaden begeistern konnte. Wie Tino habe ich als Schülerin an Mathematik-Olympiaden teilgenommen. Neben der Schule lernte ich Mathematik an einer Fernschule in Russland und wurde für zwei Jahre von der Spezialschule für Physik und Mathematik in Akademgorodok in Novosibirsk aufgenommen.
Was war auf diesem Weg in die Mathematik seinerzeit hilfreich? Die Eltern? Die Lehrkräfte? Oder auch Mathematik-Wettbewerbe?
Olga: In meiner Familie gab es viele, die sich für Mathe und Physik begeisterten. Besonders die Frau meines Vaters motivierte mich, Mathematik zu studieren, auch wenn ihre Erklärungen manchmal didaktisch begrenzt waren. Ich habe zudem erkannt, wie reduziert der Mathematikunterricht in der Schule oft war: Es gab nur einfache Übungen, kaum Transferaufgaben und wenig Förderung mathematischen Verständnisses. Deshalb habe ich mir und meinen Schülerinnen versprochen, es anders zu machen. Genau diese eigenen Herausforderungen helfen mir heute, die Bedürfnisse meiner Schüler*innen besser zu verstehen und sie individuell zu fördern.
Tino: Mit acht Jahren habe ich zum ersten Mal an der Mathematik-Olympiade teilgenommen. Die Aufgaben darin waren etwas anspruchsvoller, als die im Unterricht. Von daher habe ich verstanden, dass Mathematik mehr als nur die Zahlen und Rechnen bedeutet. Man benötigt Logik und Verständnis. Ich habe schon oft beobachtet, welche Schwierigkeiten meine ehemaligen Schulkamerad*innen beim Problemlösen hatten. Oft wurde ich von Lehrenden gebeten, meine Schulkamerad*innen mit meinen Erklärungen zu unterstützen. Das hatte für mich den Vorteil, dass ich meine mathematischen Kompetenzen durch meine wiederholten Erklärungen weiterentwickeln und festigen konnte. Schon in den jungen Jahren habe ich mir als Beruf Mathematik- Lehrer vorgestellt.
Swetlana: Die Begeisterung meines Vaters für Mathematik hat mich geprägt, aber auch das Umfeld an der Spezialschule in Akademgorodok und später die vielen Kinder und Jugendlichen in der Witzleben-Schule in Berlin, in der Mathematischen Schülergesellschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, im Bonner Matheclub oder in der Berliner Mathe-AG, die ich unterrichten durfte.
Wie ist es zur Beschäftigung mit Tauben und schwerhörigen Kindern gekommen?
Olga: Ich bin selbst mit der Gebärdensprache aufgewachsen und unterrichte deshalb Kinder, die wie ich aufwachsen. So kann ich mich gut in ihre Perspektive hineinversetzen.
Tino: Alle in meiner Familie sind gehörlos und kommunizieren zuhause in Gebärdensprache. Da ich selbst gehörlos bin, beschäftigte ich mich schon immer mit den gehörlosen Menschen.
Swetlana: Meine Familie ist in der Mehrheit hörend, aber meine Mutter hatte eine taube Tante und ich habe viele Verwandte, die seit ihrer Kindheit schwerhörig sind. Die meisten von ihnen sind gut in Mathematik. Gebärdensprachen waren in meiner Kindheit durch das Fernsehen präsent und es war für mich selbstverständlich, dass diese Sprachen dazu gehören. Sie faszinierten mich, deshalb wollte ich in Berlin Gehörlosenpädagogik studieren, aber damals hatten wir kaum Gebärdensprachen in unserem Studium. Ich habe leider erst später angefangen DGS zu lernen.
Olga Pollex Über die Bedeutung von DGS und den Gesellschaftswandel in der Gebärdensprachgemeinschaft bei Taubwissen. Quelle: Taubwissen.
Wie hat diese Arbeit begonnen und wann haben Sie sie zu Ihrem Forschungsgebiet gemacht?
Olga: Ich begann mit älteren Klassen, und mit jedem Schuljahr unterrichtete ich jüngere Schüler*innen, wodurch ich alle Jahrgangsstufen kennenlernen konnte. So bekam ich ein tiefes Verständnis dafür, wie Lernprozesse funktionieren und wie das Spiralprinzip nach Bruner* wirkt. Besonders spannend ist für mich, wie entscheidend Sprache für mathematisches Verständnis ist: Gemeinsam mit Swetlana reflektiere ich regelmäßig meinen Unterricht und entdecke immer wieder neue Möglichkeiten, Mathematik für meine Schüler*innen anschaulich und begreifbar zu machen.
Tino: Für meine empirische Forschung im Rahmen der Masterarbeit habe ich alle Testaufgaben von der deutschen Schriftsprache in DGS übersetzt. Während meiner Forschung konnte ich beobachten, dass viele gehörlose Menschen die Mathematikaufgaben erst verstehen konnten, nachdem sie die DGS-Videos angeschaut haben. In Zusammenarbeit mit Swetlana habe ich die Textaufgaben in DGS übersetzt. In der Schule unterrichte ich zu Beginn Mathematik in der Sekundarstufe 1. Die große Vorwissen-Lücke der Schüler*innen hat mich dazu gebracht, bei den jüngeren Gehörlosen anzufangen. Nun unterrichte ich Mathematik einer tauben Klasse in der Primarstufe.
Swetlana: In meiner Examensarbeit habe ich theoretische Grundlagen der Fachdidaktik und Gehörlosenpädagogik vernetzt, um auf dieser Grundlage begründet methodische Empfehlungen zu geben. DGS habe ich damals nur am Rande betrachtet. Erst durch Begegnung mit Olga und später Tino an der HU sowie den Austausch mit Tauben und schwerhörigen Kindern und Jugendlichen, die ich unterrichtet hatte, habe ich entschieden mich mit Gebärden-Mathematik und insbesondere Gebärden-Geometrie zu beschäftigen. Insbesondere der intensive Austausch mit Olga über die Jahre hat mich zum Umdenken bewegt.
Wie sieht Ihr Forschungsalltag in diesem Bereich aus?
Olga: Ich forsche nicht klassisch, aber ich analysiere meinen Unterricht, ziehe Schlussfolgerungen und entwickle Materialien. Durch den Austausch mit Swetlana und anderen Kolleg*innen entstehen viele neue Ideen, wie Mathematik für meine Schüler*innen noch verständlicher gestaltet werden kann.
Swetlana: Ich habe viele theoretische und empirische Argumente in der russischsprachigen und englischsprachigen Literatur gefunden. Aber auch im deutschsprachigen Raum gibt es sehr gute Arbeiten zu diesem Thema. Das sind z.B. die Publikationen von Viktor Werner oder Flavio Angeloni. Außerdem habe ich in den letzten Jahren viele Veranstaltungen zur Linguistik der Gebärdensprachen an der HU gehört. Besonders viel habe ich von Prof. Christian Rathmann und Gabriele Unterhitzenberger über Gebärdensprachen gelernt. Dieses theoretische Wissen wende ich an, wenn ich gebärdensprachliche mathematische Äußerungen analysiere. Die Aufgaben des Adventskalenders bieten dann empirisches Datenmaterial, welches analysiert wird.
In meiner Dissertation habe ich mich noch nicht mit Gebärdensprachen beschäftigt, sondern mit Vernetzungen zwischen Geometrie, Algebra und Stochastik in der Schule. Damals ging es um Aufgaben, die die Lernenden selbst entwickelt haben.
Wie kam es zu der Idee eines mathematischen Adventskalenders für gehörlose Kinder in Gebärdensprache?
Olga: Die Idee kam von Swetlana, deren Begeisterung für Mathematik sehr ansteckend ist. Herkömmliche Mathematikaufgaben sind für unsere Zielgruppe kaum geeignet, daher entwickelten wir eigene Aufgaben in Gebärdensprache. Der Adventskalender ist der erste Schritt zu einem größeren Fundus solcher Aufgaben.
Tino: Swetlana bat mich, die alten Aufgaben des Känguru-Wettbewerbs in DGS darzustellen, um sie den mathematisch begabten Kindern zu zeigen. Es hat sich herausgestellt, dass sogar die hörenden Kinder die DGS-Aufgaben anhand der Visualisierung verstehen konnten. Dann wurde diese Idee zum Adventskalender weiterentwickelt. Zuerst wurden viele Aufgaben in DGS übersetzt und später konnten die Visualisierungen ins Video eingebaut werden.
Swetlana: Wir hatten taube Kinder im Bonner Matheclub und die herkömmliche Aufgaben passten nicht optimal. Insbesondere eine taube Mutter, Daniela Bayer-Sos hat mich motiviert, nach Aufgaben in DGS zu suchen. Da wir kaum welche finden konnten, kam die Idee welche zu entwickeln.
Tino Sell. Quelle: privat.
Seit wann gibt es den mathematischen Adventskalenders für gehörlose Kinder in Gebärdensprache? Und wie wird er angenommen?
Olga: Es gibt den Kalender seit drei Jahren. Kolleg*innen und Schüle*rinnen geben regelmäßig positives Feedback, besonders ältere Schüler*innen hatten viel Spaß daran und wollten lieber damit arbeiten als mit klassischen Aufgaben.
Tino: Ich schließe mich der Vorrednerin an.
Swetlana: Ich habe die Aufgaben selbst im Bonner Matheclub eingesetzt, aber ich weiß, dass sie auch in den Kursen von DGS verwendet werden. In Italien wird gerade ein Lehrbuch für Studierende geschrieben, in dem Aufgaben aus dem Adventskalender als Orientierungsbeispiele verwendet werden.
Welche Projekte für gehörlose Menschen und schwerhörige Kinder begleiten Sie noch?
Olga: Ich begleite tolle Projekte an der HU wie z. B. DeSign, ReadDi und BAGSign sowie SIGN2MINT von der Max-Planck-Gesellschaft, entwickle eigene Unterrichtsmaterialien in Gebärdensprache, die ich auf eduki als @frau.taube teile. So können auch andere Lehrkräfte von den Materialien profitieren.
Tino: Im Moment begleite ich kein Projekt. Damals habe ich mich mit den Projekten Gebärdengrips, in welchem ich die geometrischen Figuren im DGS-Video anleitend erkläre, und sign2mint beschäftigt, indem ich zusammen mit anderen Mathematik-Lehrenden die Gebärden der mathematischen Begriffe entwickelte.
Swetlana: Ich habe bei STEMSiL mitgearbeitet und habe mit Hilfe von Nelli Efimov und Janina Scholtz im letzten Jahr eine Mathe-AG in DGS in Berlin gegründet, die ich in der Zukunft fortführen möchte. Gemeinsam mit Flavio Angeloni und Christian Hausch leite ich im März 2026 ein Mini-Symposium auf der Jahrestagung der GDM in Wuppertal, welches Gebärdensprachen gewidmet ist.
Wie viel Unterstützung bekommen Sie dafür von Ihrer Universität, Verbänden oder auch der öffentlichen Hand?
Olga: Ich bin dankbar für die Förderung durch mein Kollegium, meine Schulleitung und die Senatsverwaltung für Bildung in Berlin. Es gibt viel Vertrauen, Austausch und Unterstützung für meine Arbeit.
Swetlana: Ich bin sehr dankbar Prof. Andreas Filler, Holger Huth (Schulleiter der Witzleben-Schule), Stefan Hartmann (Leiter des Bonner Matheclubs), Prof. Rainer Kaenders und Prof. Katja Eilerts, die mir als Leitung immer viel zeitlichen Freiraum für die Arbeit mit Tauben und schwerhörigen Kindern und Jugendlichen gewährt haben. Inhaltlich haben mich sehr viel Taube Forschende wie Dr. Ingo Barth z.B. und Taube Lehrkräfte beraten. Ich finde es schade, dass viele von ihnen trotz ihrer wissenschaftlichen Qualifikationen nicht an den Hochschulen in Deutschland arbeiten können. Ich hoffe sehr, dass es sich in der Zukunft noch ändert und spätestens die Kinder, die heute am Adventskalender knobeln, Mathematik und Ihre Didaktik nicht nur in Deutsch, sondern auch in DGS an den Universitären von morgen lehren und erforschen.
Das Interview führte Thomas Vogt.


