Thomas Jahre bezeichnet sich selbst als "einen bisschen verrückten Mathelehrer", der jungen Leuten die Vielfalt der Mathematik spielerisch nahe bringen möchte. Wöchentlich gibt der Mathematik- und Physiklehrer am Chemnitzer Schulmodell eine spezielle Mathematik-Wochenaufgabe heraus, die man auch als Newsletter bestellen kann. Stephanie Schiemann vom Netzwerkbüro Schule-Hochschule sprach mit ihm.

jahre2(Foto: privat)

Was ist an Ihnen verrückt, wenn ich fragen darf?

Es ist vielleicht etwas „verrückt“, wenn ich bei meiner Telefonnummer teste, ob es eine Quadratzahl ist, was übrigens bei meiner Festnetznummer zutrifft. Vielleicht ist es auch etwas „verrückt“, dass ich während meines Urlaubs in Frankreich auf mathematische Spurensuche gehe. So manches Geburtshaus französischer Mathematiker habe ich besuchen können, viele Statuen und Gedenkstätten fotografiert. Na ja und seit 2002 Woche für Woche eine Aufgabe zu veröffentlichen – okay in den Ferien nicht – ist sicher auch etwas „verrückt“.

Ohne Frage, das ist ungewöhnlich. Sie sind auch an einer besondere Schule am - Chemnitzer Schulmodell - was ist da anders?

Unsere Schule, die aus einer Bürgerinitiative heraus 1990 gegründet wurde, ist mittlerweile zweizügig. Die Klassen von 1 bis 10 lernen gemeinsam in einem Haus, und das bis zur 7. Klassenstufe ohne Noten. Es gibt Projektwochen für die gesamte Schule, aber auch viele andere Lernformen, die in den Klassen praktiziert werden. Am Ende der 10. Klasse nehmen alle Schüler an den zentralen Prüfungen des Landes Sachsen teil. Dass man eben auch „anders“ erfolgreich lernen kann, zeigt sich u.a. daran, dass mehr als 80% aller Schüler nach dem Verlassen unserer Schule das Abitur anstreben und auch erreichen! Am besten ist es aber, sich selbst die Schule anzuschauen, mit Schülern, Eltern und Lehrern zu reden und zur Einstimmung auf unsere Homepage zu schauen.

Welche Rolle spielt an Ihrer Schule die Mathematik, welche Rolle Sie persönlich?

Erst einmal gibt es - wie in allen Schulen - das Fach Mathematik, aber bereits ab der 1. Klasse wird im Werkstattunterricht fächerübergreifend unterrichtet, das schließt das Rechnen mit ein. Aus Lieblingszahlen werden kleine Kunstwerke, Bilder und Collagen angefertigt. Im Kunstunterricht der 10. Klasse wird ganz bewusst mit Themen wie Schach, Perspektiven und Dürers Geometrie umgegangen. Dazu gehört aber auch ein Vortrag von Prof. Dr. Horst Martini (TU Chemnitz) über M. C. Escher. Ich bin froh, dass Professor Martini den Vortrag jetzt schon mehrfach an unserer Schule gehalten hat. Ein Höhepunkt war auch der Vortrag von Professor Hemme zur Unterhaltungsmathematik am Ende des letzten Schuljahres. Na ja und wer weiß, vielleicht findet auch noch Wladimir Velminski nicht nur den Weg Eulers, sondern auch den Weg nach Chemnitz. Ich werde ihn mal anschreiben. Ein Projekt noch zum Schluss: „Die Vermessung der Welt“. Die Untersuchung des Bodens unter unseren Füßen (Geografie), verbunden mit Vorträgen am Lagerfeuer zu Gauss, S. Germain, Humboldt … und dazu der Umgang mit Theodoliden, die ich von Dresden nach Thüringen fahre.

... alles Zahl ist.                                Thomas Jahre


Wie ist es zu diesem Projekt gekommen? Woher nehmen Sie jede Woche eine neue Idee?

Im Jahr 2002 las ich in einem Buch eine Aufgabe über die Anzahl der Möglichkeiten Geldscheine zu wechseln. Eine Variante davon wurde die erste Aufgabe der Woche. Als Webmaster unserer Schulhomepage hatte ich so eine Möglichkeit gefunden, immer was Neues zu veröffentlichen und gleichzeitig die mathematischen Angebote der Homepage zu erweitern. So finden sich dort jetzt sehr viele der kleineren und größeren Projekte aus dem Mathematikunterricht wieder. Die erste Struktur der Wochenaufgaben ist dann entstanden: Je nach Schwierigkeit gibt es 2 bis 12 Punkte. Die Aufgaben werden in Serien zu 12 Aufgaben zusammengefasst. Es werden immer kleine Geschichten erzählt. Mit der Aufgabe 7 der dritten Serie begann die Phase der Protagonisten, die die Geschichten (Aufgaben) erzählten. Maria und deren Bruder Bernd, dessen Freund Mike, der später eine Freundin bekam - Lisa. Nachdem sich ein Schüler aus einer 7. Klasse, der gerne mitmachte, „beschwerte“, dass die Aufgaben manchmal zu leicht, dann wieder sehr schwierig seien, gab es nach rund 180 Aufgaben dann zweigeteilte Aufgaben (einfach – blaue Punkte, komplexer – rote Punkte.). In Büchern und Filmen Anregungen für 10 bzw. 20 Aufgaben zu finden, geht schnell und wenn man mit offenen Augen durch die Welt geht und viel liest, dann sieht man immer mehr Aufgaben vor sich. Die Texte sind alle von mir selbst formuliert. Ein neuer Kollege mit der Kombination Mathematik/Englisch war dann so sehr von den Geschichten angetan, dass es seit Aufgabe 327 auch eine englische Übersetzung gibt. Seit 2015 gibt es sogar noch zusätzlich eine italienische und eine französische Fassung. Und bei der Aufgabe 500 haben wir uns etwas ganz Besonderes einfallen lassen: Sie wurde in über 30 Sprachen übersetzt. Seit August 2015 werden ausgewählte Aufgaben in der Zeitschrift Wurzel veröffentlicht.

Werden die Wochenaufgaben in den Schulalltag integriert oder läuft das Projekt komplett nebenbei?

Die Wochenaufgaben sind Teil von Monatsplänen in den Klassen 8 bis 10 in der Schule. Es gibt aber auch Teilnehmer, die nicht (oder nicht mehr) an der Schule sind und mir ihre Lösungen schicken.

Haben Sie eine Lieblingsaufgabe?

Aufgabe 12 (384. Wertungsaufgabe)

Bernd trifft Mike im Treppenhaus der Schule. „Was ist denn mit dir? Musst du zur Strafe 100 mal die Treppe hoch und runter?“, fragte Bernd. „Nein, ich prüfe etwas nach. Die Treppenstufen sind von unten nach oben durchnummeriert. Beim Hochsteigen benutze ich entweder jede Stufe, ich darf auch eine auslassen – aber nicht mehr. Wenn ich nun drei Stufen habe, so gehe also Stufe 1, Stufe 2, Stufe 3 oder Stufe 2, Stufe 3 oder aber Stufe 1, Stufe 3. (kurz 1-2-3, 2-3 oder 1-3) Es sind also drei Möglichkeiten, wie ich eine dreistufige Treppe gehen kann.“ „Verstehe und nun arbeitest du dich so langsam nach oben.“

Wie viele Möglichkeiten des Treppensteigens gibt es, wenn es 5 Stufen sind? - 3 blaue Punkte

Wie viele Möglichkeiten gibt es, wenn die Treppe n Stufen hat? - 4 rote Punkte.

Es ist einfach eine sehr überraschende Lösung.

Jahre(Foto: privat)

Was wünschen Sie sich von den Lesern?

Ich würde mir wünschen, dass mir mehr Leser ihre Lösung zuschicken.

Wie sind Sie selbst zur Mathematik gekommen? Gab es da eine bestimmte Person oder ein bestimmtes Thema?

Schon als Schüler hat mich die Mathematik sehr interessiert, so dass ich bei einigen Schul- und Kreisolympiaden teilnahm. Auch eine Art Förderunterricht habe ich damals mitorganisiert. Vermutlich aber war es mein Vater, der das "Mathe-Gen" zwar nicht unbedingt selbst hatte, bei mir aber die Grundlagen gelegt hat. Mit drei Jahren konnte ich die Tiere im Bergzoo in Halle problemlos zählen und die erste Taschenuhr bekam ich zu meinem 5. Geburtstag, nachdem mir mein Vater "die Uhr" beigebracht hatte.