Mathemacher des Monats April 2016 ist das Team "Mathe für Nicht-Freaks". Gerade am Anfang des Studiums haben viele Studierende große Verständnisschwierigkeiten im Fach Mathematik. Deswegen gründeten Stephan Kulla und Akram Chawki (Mathematik-Studenten der LMU München) 2009 das Wikibook-Projekt „Mathe für Nicht-Freaks“. Dies ist eine für alle frei zugängliche digitale Lehrbuchreihe für Studienanfänger, die neben der formalen Definition auch die Motivation und die Intuition hinter den mathematischen Konzepten vermittelt. Die Grundlagen und der Stoff des ersten Semesters werden ausführlich und vor allem sehr verständlich erklärt. Jeder ist eingeladen, an diesem Projekt mitzuwirken und so haben bereits über 300 Autoren daran gearbeitet. Stephanie Schiemann vom Netzwerkbüro Schule-Hochschule sprach mit Stephan Kulla, Christoph Kehle, Prof. Dr. Werner Fröhlich und Franz Tessun aus dem Team hinter "Mathe für Nicht-Freaks".
(Foto: Helena Lyhme)
Wie ist die Idee zur Lehrbuchreihe „Mathe für Nicht-Freaks“ entstanden?
Viele Studierende haben große Verständnisprobleme im Studium der Mathematik, gerade in den ersten Semestern. Hier sehen wir Verbesserungspotential bei vielen Lehrbüchern und Vorlesungsskripten: Während diese formal gesehen sehr gut geschrieben sind, fehlt oft eine ausführliche Beschreibung der Motivation, wie man zu mathematischen Begriffen kommt und ob und ggfs. wie sie mit der Intuition vereinbar sind. Deswegen wollten wir ein Lehrbuch schreiben, welches das vorherrschende „Definition-Satz-Beweis“-Schema aufbricht, um Platz für zusätzliche Erklärungen zu schaffen. Uns ist wichtig, dass kein Satz und keine Definition „vom Himmel fällt“. Sprich: Wir zeigen unseren Lesern und Leserinnen unter Verwendung didaktischer Prinzipien, wie Sätze und Definitionen hergeleitet werden und wie man einen konkreten Beweis findet. Die Durchführung erfolgt - wie sonst nicht üblich - in sehr kleinen Schritten, die auch sog. „Trivialitäten“ einbeziehen. Wir schaffen eine Verbindung zwischen Intuition und formaler Definition und erklären, warum bestimmte Definitionen und Sätze nützlich sind. Wir haben uns dabei bewusst dafür entschieden, unsere Lehrbücher unter eine freie Lizenz zu stellen. So kann jeder Dozierende und jeder Studierende unsere Materialien für Lehre und Lernen benutzen. Auch soll jeder die Möglichkeit haben, an unserem Projekt mitzuarbeiten, weswegen wir Wikibooks als Plattform nutzen. Unsere Bücher sind für alle kostenfrei zugänglich. So leisten wir einen kleinen, aber wertvollen Beitrag für mehr Bildungsgerechtigkeit.
Wie erlebet das Team selbst die Resonanz unter den Kommilitonen oder Studierenden anderer Fächer? Nutzen es auch Nicht-Mathematikstudierende? Sind die Nutzerzahlen, Seitenaufrufe bekannt?
Aktuell verzeichnen wir im Projekt ungefähr 900.000 Seitenaufrufe im Jahr. Insgesamt wurden unsere Artikel über 3.000.000 Mal besucht. Eine detaillierte Statistik, was unsere Leser/innen studieren, gibt es nicht. Wir wissen aber dank ihrer Zuschriften, dass neben Studierenden der Mathematik auch Studierende anderer Fachrichtungen wie Physik, Chemie, Informatik, Ingenieurwissenschaften, Wirtschaftswissenschaften und Lehramtsstudierende auf unsere Seiten zugreifen. Selbst Schüler/innen lesen unsere Bücher. Außerdem nutzen Dozierende unsere Materialien für ihre Lehre.
Das Feedback unserer Leser und Leserinnen ist überragend. Viele berichten, dass ihnen unsere Kapitel beim Verständnis mathematischer Konzepte sehr helfen, und sie wünschen sich, dass unser Projekt in den nächsten Jahren noch weiter ausgebaut wird.
Wie haben Sie es geschafft, so viele Menschen zu motivieren, selbst Artikel für die Lehrbuchreihe zu schreiben? 300 sind schon eine Menge. Werden die Artikel auch inhaltlich geprüft?
Die Arbeit in unserem Projekt funktioniert wie bei der Wikipedia: Jeder kann alle Inhalte bearbeiten und ergänzen. So korrigieren viele Leser/innen inhaltliche oder typographische Fehler direkt, verbessern Formulierungen oder schreiben uns eine E-Mail mit Verbesserungsvorschlägen. Dies funktioniert wunderbar und wir können nur dankbar für unsere aktive Leserschaft sein. Außerdem kontrollieren wir neu erstellte Kapitel gegenseitig und haben ehrenamtliche Autoren und Autorinnen, die vor allem im Lektorat arbeiten. Schwieriger ist es aber, neue ehrenamtliche Autoren und Autorinnen zu finden. Deswegen werben wir ständig auf unseren Seiten und über Mailinglisten um neue Mitarbeiter/innen zu finden. Wir betreuen Neulinge sehr intensiv und organisieren regelmäßige Treffen, um die Zusammenarbeit im Team zu stärken. Im Artikel „Fusion von OER-Projekten: Chancen und Herausforderungen“ des Blogs mapping-oer.de haben wir unsere Erfahrungen zum Community-Aufbau zusammengefasst.
Wie viel Arbeit macht das Recherchieren der Informationen? Kennen Sie die Inhalte aus eigenen Vorlesungen oder haben Sie Erklärungen oder ganze Themen auch selbst oder im Team erarbeitet?
Unsere Kapitel gehen oft über das hinaus, was in Vorlesungen oder Lehrbüchern vermittelt wird. Gerade bei der Motivation und Herleitung mathematischer Begriffe und der Beschreibung der Intuition dahinter bringen wir viele eigene Ideen ein und müssen umfangreich recherchieren. Hier nutzen wir die gesamte Bandbreite der Möglichkeiten: Wir besprechen unsere Inhalte im Team, nutzen diverse Mathematik-Foren zur Klärung unserer Fragen und fassen Ideen aus verschiedenen Skripten und Lehrbüchern zusammen. So können Recherche und Ausarbeitung neuer Kapitel durchaus einige Wochen dauern.
„Mathe für Nicht-Freaks“ gibt es nun schon seit 2009. Fast sieben Jahre sind inzwischen vergangen. Wie soll es weiter gehen? Gibt es schon Pläne?
Aktuell arbeiten wir daran, die Lehrbücher zur „Analysis 1“ und zur „Linearen Algebra“ inhaltlich abzuschließen. Danach wollen wir alle erstellten Kapitel soweit überarbeiten und verbessern, dass wir unsere Lehrbücher verlegen können. Hier arbeiten wir aktuell an einem Tool, mit dem sich eine PDF-Version erstellen lässt. Außerdem haben wir begonnen, unsere Lehrbücher ins Englische zu übersetzen. Für alle diese Aufgaben suchen wir noch ehrenamtliche Autoren und Autorinnen, die sich gerne bei uns unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! melden können.
Abschließend würde mich interessieren, wie hilfreich die intensive Beschäftigung mit dem Stoff für euer eigenes Studium war. Inwiefern hat es euch geholfen, die Mathematik zu verstehen?
Die Arbeit an MfNF hilft ungemein, ein tieferes Verständnis für die Mathematik und für mathematische Zusammenhänge aufzubauen. Nicht umsonst heißt es: „Man hat erst dann etwas verstanden, wenn man es erklären kann.”In der Regel geht das Verständnis nach dem Schreiben eines neuen Kapitels über das hinaus, was man während einer Vorlesung über das entsprechende Thema gelernt hätte.
Anmerkung von Franz Tessun:
„Auch ich als ehemaliger Mathematikstudent und jetziger Rentner, der immer noch Spaß an der Mathematik hat, frische meine Kenntnisse auf und erneuere mein Wissen kontinuierlich. Es macht einfach Freude, wieder intensiver in diese wunderbare Wissenschaft und Sprache einzutauchen. Hätte es doch MfNF schon zu meiner Studienzeit gegeben!"