Der Versicherungsmathematiker Onnen Siems und der Fachvorsitzende Mathematik des Hansa-Gymnasiums in Köln Carsten Seyfarth haben zusammen ein Projekt auf die Beine gestellt, bei dem Oberstufenschülerinnen und Schüler ein Modell entwickelt haben, um an ihrer Schule die Abiturnoten zu prognostizieren. In dem Oberstufenkurs wurde ein geeignetes, multivariates Modell vorgestellt, welches auch für den Datenschutz sensibilisiert hat. Stephanie Schiemann vom Netzwerkbüro Schule-Hochschule sprach mit den beiden Projektleitern.
(Foto: privat)
Herr Siems, Sie sind Aktuar und Initiator des Schulprojektes zur Abiturnotenprognose. Wie kamen Sie auf die Idee?
OS: Ich habe drei Gründe anzuführen: 1. Mich nervt dieser unsägliche Spruch „In Mathe war ich immer schlecht“. Es kommt ja auch keiner auf die Idee, mit seiner Leseschwäche zu kokettieren. 2. Es fehlt an mathematischem Nachwuchs an den Hochschulen. Der Bedarf wächst ständig, aber die Studierendenzahlen sind rückläufig. Und das ist nur positiv zu beeinflussen, wenn man sich in den Schulen engagiert. 3. Mit dem Hansa-Gymnasium hatten wir bereits 2008 ein erfolgreiches Schülerprojekt mit einem Naturwissenschaftskurs von Herrn Seyfarth durchgeführt.
Zu der Realisierung des Projektes brauchten Sie einen Lehrer*innen und Schüler*innen. Hat Herr Seyfarth und der Oberstufenkurs sofort mitmachen wollen oder wie haben Sie sie in den Bann gezogen?
CS: Ich war von seinem weiteren Projekt gleich sehr begeistert, da die Schülerinnen und Schüler dadurch die Möglichkeit bekommen, einen konkreten Anwendungsbezug aus der Wirtschaft zu erleben und an einem außerschulischen Ort zu arbeiten. Die Idee wurde von den Schülern sehr positiv aufgenommen und sie waren auch gleich bereit, zusätzliche Zeit zu investieren. Auch während des Projektes und danach waren sie sehr zufrieden mit der Durchführung und dem Ergebnis.
Wie verlief die Umsetzung des Projektes. Wie lange dauerte es? Bitte erzählen Sie uns die wesentlichen Stationen und Ergebnisse.
OS: Die ersten Gespräche führten wir vor einem Jahr. Zunächst mussten datenschutzrechtliche Bedenken der Schulleitung und des Datenschutzbeauftragten der Schulen Kölns ausgeräumt werden. Ein Vorgang, mit dem wir prinzipiell gut vertraut sind, da unser Haus regelmäßig mit der statistischen Analyse von personengebundenen Daten beauftragt wird. Eine große Herausforderung war das Heben und Validieren der Daten. Insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass im Analysezeitraum ein Systemwechsel vollzogen wurde. Der Aufbau der Analysedatei dauerte einige Wochen und erzielte dank der engagierten Mitarbeit von Herrn Seyfarth ein gutes Qualitätsniveau. Die multivariate Modellierung erfolgte mit einer selbstentwickelten Statistiksoftware. Acht hochmotivierte Schüler des Hansa-Gymnasiums besuchten unser Büro, wo wir gemeinsam alle Schritte von den Rohdaten bis zum Modell nachvollzogen. Die Schüler konnten an unseren Computern eigene Modelle selbständig rechnen.
CS: Die Arbeit im Aktuarebüro war wirklich toll und wir waren sehr dankbar für dieses Projekt, insbesondere da es Herrn Siems und seinen Mitarbeitern wirklich viel Arbeit bereitet hat. Dafür auch an dieser Stelle ein ganz besonderes Dankeschön.
Anschließend haben wir die Ergebnisse im Rahmen einer Projektwoche an der Schule weiter aufbereitet und erstellen dazu gerade einen kleinen Film, um unsere Arbeit und unsere Erkenntnisse den anderen Schülern leichter zugänglich zu machen. Eine parallele Gruppe arbeitet währenddessen daran, welche Daten man eigentlich veröffentlicht haben möchte und von Unternehmen gesammelt werden sollten, Stichwort "smartwatches" bzw. "Fitnessarmbänder", dies soll zu einer kritischen Haltung gegenüber der freiwilligen "Datenfreigabe" führen.
Beschreiben Sie bitte kurz das multivariate Modell, das hinter dem entwickelten Programm steckt.
OS: Wir haben Anleihen aus der Versicherungsmathematik genommen und einen typischen Tarifierungsansatz aus der Versicherungswirtschaft adaptiert. Es handelt sich dabei um ein so genanntes Verallgemeinertes Lineares Modell mit Poissonverteilung und Log-Linkfunktion. Das klingt kompliziert, ist aber in der Anwendung ganz einfach: Für die mittlere Abiturnote werden Faktoren geschätzt, die diese positiv oder negativ beeinflussen.
Carsten Seyfarth
Wie gut kann das Programm die Abiturnoten abschätzen? Wurde es bereits mit dem letzten Abschlussjahrgang getestet oder kommt der Live-Test in dieser Saison?
OS: Ich würde sagen: für den ersten Wurf ist es brauchbar. Die Modellierungsbasis waren die Jahrgänge 2012 bis 2014, wobei der 2012er ein doppelter Jahrgang war. Validiert wurde das Modell an den Abinoten des Jahres 2015.
CS: Die Schülerinnen, Schüler und ich waren überrascht, wie genau die Ergebnisse passen, obwohl relativ wenige Merkmale in die Berechnung eingeflossen sind.
Ist das Programm auch übertragbar auf andere Schulen? Würden Sie es auf Anfrage zur Verfügung stellen?
OS: Ein klares Jein: Bestimmte Merkmale wie die Stadtteile müssten bei einer anderen Schule natürlich neu modelliert werden. Grundsätzlich spricht aber nichts gegen eine Weitergabe des Modells. Wir sehen potenziellen Anfragen mit Interesse entgegen.
Nun sind die Oberstufenverordnungen und damit auch die Berechnungsmethoden der Abiturnoten in jedem Bundesland anders. Die unterschiedliche Anzahl von einfließenden Noten und die verschiedenen Gewichtungen dieser war Anlass für vielfältige Diskussionen. Haben Sie sich auch sich im Kurs auch mit diesen Ungleichheiten beschäftigt?
OS: Nein, an diesen Detaillierungsgrad haben wir uns (noch) nicht herangetraut. Tatsächlich hatten wir in unserem Analysezeitraum bereits mit einem „doppelten Jahrgang“ zu kämpfen.
Die Abiturnote ist vielfach die Eintrittskarte für ein Studium. Ihr Programm kann helfen, das Engagement für die Schule vorab besser einschätzen zu können, um die notwendige Abiturnote für ein bestimmtes Studienfach auch tatsächlich zu erreichen. War das Ihr Ziel?
OS: Das war nicht unser primäres Ziel. Wir wollten vielmehr Objektivität in das Thema bringen und sind dementsprechend vorurteilsfrei an die Arbeit gegangen.
Abschließend noch eine allgemeine Frage: Bitte erklären Sie kurz, was ein Aktuar ist und wie man es werden kann.
OS: Ein Aktuar ist ein Versicherungsmathematiker – klingt ziemlich langweilig, ist aber sehr spannend. Wir erstellen wie im Abiturprojekt meistens Prognosemodelle auf Basis von mehr oder weniger validen Daten. Folgende Dinge sollte ein Aktuar mitbringen: Ein Faible für Zahlenakrobatik und Statistik, gesunden Menschenverstand, Kreativität und kommunikative Fähigkeiten, da die Empfänger unserer Modelle oft keine Mathematiker sind.