Der Mathematik-Professor Cédric Villani hält am 22. Mai die diesjährige Euler-Vorlesung in Potsdam. Das nehmen wir zum Anlass, den Fieldmedaillisten des Jahres 2010 zum Mathemacher des Monats Mai 2015 zu ernennen. Der ebenso geniale wie extrovertierte Mathematiker aus Frankreich gilt als Superstar der Mathematik. Durch seine Bücher („Das lebendige Theorem“, Filme („Colors of Math“, „How I came to hate Math“), Fernseh- und Radio-Auftritte ist er inzwischen auch einer breiten Bevölkerung bekannt. Günter M. Ziegler und Thomas Vogt sprachen mit dem engagierten Mathematik-Vermittler.

Cedric Villani at his office 2015 n2

(Foto: Wikimedia)

 Was war Ihr erstes Mathematik-Erlebnis als Kind?

An mein erstes Mathematik-Erlebnis erinnere ich mich nicht – aber seit ich denken kann, habe ich mich für Geometrie und Zahlen interessiert. Ich habe riesige magische Vierecke konstruiert – und war froh, einen schnellen Lösungsweg für eine ungerade Anzahl an Feldern zu lernen und anzuwenden – und mich über „Donald in Mathmagic Land“ gefreut. Auch erinnere ich mich, dass mein Vater mir auf dem Flohmarkt ein Mathebuch für Kinder mit schönen Abbildungen kaufte; unter anderem enthielt es Informationen zum Goldenen Schnitt, zur Fibonacci-Folge, zu Gauß’ Leben und über Polyeder; und das Buch versuchte, Kindern allerlei über Zahlen beizubringen. Ich las immer wieder den Abschnitt über komplexe Zahlen, der einen Vergleich zu elektrischer Ladung enthielt, konnte aber einfach nicht verstehen, worum es ging.

In welchem Alter begann Ihre Liebe zur Mathematik und wie äußerte sie sich?

Interesse an Mathematik hatte ich von Anfang an; von Liebe zur Mathematik würde ich ab dem Punkt sprechen, ab dem ich als Teenager anfing, mathematische Beweise zu entwickeln. Damals trug ich kleine Notizbücher mit mir herum, in die ich allerlei Axiome, Theoreme, Formeln usw. schrieb: wertvolle Fundstücke, die ich in der Schule oder aus Büchern gelernt hatte. Rückblickend würde ich drei Perioden definieren: am Anfang war die Zeit der Beweissuche (mit 13 bis 15 Jahren, Schwerpunkt Geometrie), dann der Beginn der professionellen Ausbildung mit dem intensiven Training der Vorbereitungskurse [für eine der Elitehochschulen, die Red.] (mit 17 bis 19 Jahren, Schwerpunkt Algebra) und als dritte die Dissertationsphase (mit 22 bis 25 Jahren, entschieden für Algebra). Ab da war es echte Leidenschaft.

Haben Ihre Eltern Sie beim Mathematik-Machen unterstützt oder waren das eher die Lehrer*innen an der Schule?

Meine Eltern haben meinen Weg in die Mathematik unterstützt, aber sie konnten mir schon als ich 12 war nicht mehr helfen. Im Alter von 13 bis 15 hatten zwei Lehrer besonderen Einfluss auf mich: Sie gaben mir viele Aufgaben, alle außerhalb der regulären Lehrpläne, und sie waren voller Leidenschaft. Aus diesen Tagen sind mir zwei Themen besonders im Gedächtnis geblieben: elementare lineare Optimierung und Schwerpunktsbeweise für geometrische Sätze. An eine Sache erinnere ich mich besonders gut: Unser Lehrer hatte uns eine spezielle Geometrieaufgabe gegeben und das Ziel war, sie auf verschiedenen Wegen zu beweisen. Man konnte sie im kartesischen Koordinatensystem lösen, jedoch sollte ich es auch auf dem klassischen Weg versuchen, wie ihn die alten Griechen beschritten hätten. Ich arbeitete hart. Tag für Tag versuchte ich die richtigen Argumente zu finden und aufzuschreiben und war stolz, als ich die Aufgabe endlich gelöst hatte. Doch dann war ich sehr frustriert, als mein Lehrer sagte, dass mein Lösungsweg unnötig kompliziert sei. Auch wenn sich damals zeigte, dass diese Art Theoreme nicht mein Fall war, so waren dies rückblickend betrachtet doch meine ersten Schritte in die Welt der mathematischen Forschung.

Wann und wie erreichte Sie die Nachricht, dass Sie die Fieldsmedaille bekommen würden?

Durch einen Telefonanruf in meinem Büro am Institut Henri Poincaré, etwa sechs Monate vor dem ICM in Hyderabad. In meinem Buch "Théorème vivant" (Das lebendige Theorem) erzähle ich davon: Ich war mitten in einem Fotoshooting für ein Magazin und nahm den Hörer eher beiläufig ab. Doch dann gefror mir das Blut in den Adern, als ich hörte, dass der Präsident der Internationalen Mathematikerunion dran war. Mein Herz setzte fast aus als er sagte, er habe gute Nachrichten für mich. Als er mir dann sagte, was los sei, wurde ich noch aufgeregter und schrie schon fast ins Telefon. Ich sagte irgendetwas vom wunderbarsten Tag meines Lebens, oder was man in so Momenten halt sagt. Auch versprach ich ihm absolutes Stillschweigen. Als ich dann jedoch auflegte, merkte ich, dass der Fotograf noch in meinem Büro war und das Gespräch natürlich mitgehört hatte! Glücklicherweise konnte er jedoch kein Englisch oder er hatte doch nicht zugehört, während er die nächste Einstellung vorbereitete. Später fragte er mich, ob an den Gerüchten etwas dran sei, dass ich die Medaille bekommen könnte. Woraufhin ich natürlich ahnungslos tat.

Wie hat sich Ihr Leben verändert – während der ersten Sekunden, während der ersten Jahre nach der Nachricht?

In den ersten Sekunden, Minuten oder Tagen nach dem Anruf ändert sich eigentlich gar nichts. Irgendwann fängt man sogar an sich zu fragen, ob der Anruf nicht sogar ein Traum oder schlechter Scherz gewesen sei. Doch dann kommt per E-Mail die Bestätigung und ein paar wenige Kollegen sind auch eingeweiht. Ich hatte noch sechs Monate, um mich mental und praktisch auf das einzustellen, was dann kommen würde. Die größte Veränderung war eigentlich das Ausmaß des öffentlichen Interesses, die veränderte Beziehung zur nicht-mathematischen Außenwelt: Innerhalb der Mathematiker-Gemeinde änderte sich nicht viel; anders war es bei den Politikern, Unternehmern, Journalisten, Studierenden und Schulkindern. Vor der Auszeichnung war man ihnen weitgehend unbekannt – aber danach stehst du plötzlich im Rampenlicht und deine Meinung zählt für sie. Zwar kannten mich auch vorher schon manche als Direktor des Institut Henri Poincaré. Aber die Dynamik war nun eine völlig andere. Die Zeremonie auf dem ICM ist dann nochmal ein extrem emotionaler Moment. Und wieder fragt man sich, ob man nicht träumt. Doch die Tatsache, dass die ganze Welt zuschaut, löst dann wieder eine Flut an öffentlichem Interesse und Interviews aus.

... sie ständig die Welt verändert.                      Cédric Villani


Wollten Sie schon immer auch eine breite Öffentlichkeit erreichen oder ist das eher etwas, was sich in den letzten Jahren entwickelt hat?

Es ist eine Ironie des Schicksals, dass ich ein solch kommunikativer Mensch geworden bin, denn in meiner Jugend galt ich als die Schüchternheit in Person. Doch während meines Studiums an der Ecole Normale Superieure (ENS) in Paris habe ich mich sehr viel mit meinen Kommilitonen und auch Nicht-Wissenschaftlern ausgetauscht. Ich habe einen stark literarischen Hintergrund, weil meine beiden Eltern französische Literatur unterrichten. Am Wichtigsten für mich war jedoch meine Arbeit in Lyon. Dort herrschte die Überzeugung vor, dass es Pflicht der Wissenschaftler sei, auch an die breite Öffentlichkeit zu kommunizieren, und diese Aufgabe auch ernst zu nehmen. Mein Büronachbar an der ENS in Lyon, Etienne Ghys, hatte da großen Einfluss auf mich. Es ist sicher kein Zufall, dass zwei französische Mathematiker, die Mathematik erfolgreich in die Öffentlichkeit tragen, 9 Jahre lang Büronachbarn waren. Außerdem absolvierte ich vor zehn Jahren ein spezielles Kommunikationstraining am CNRS, übrigens auch auf Vorschlag von Ghys. Wir lernten in zwei Tagen unter Anleitung eines Medienspezialisten die grundlegenden Prinzipien der Wissenschaftskommunikation. So konnte ich, als die Medienaufmerksamkeit einsetzte, damit umgehen und meine Fähigkeiten von Tag zu Tag verbessern. Kommunikation ist nicht nur hilfreich bei der Auseinandersetzung mit dem Publikum, sie hilft auch einem selbst beim Reflektieren der Arbeit, die Gedanken zu ordnen und vieles mehr. Und es gibt nichts Schöneres, als eine Vorlesung vor Hunderten von Schülern, wenn der Funke übergesprungen ist und nach einer einstündigen Vorlesung noch 40 Minuten lang Fragen gestellt werden. Das ist ein tolles Gefühl für einen selbst, die Schüler und die Lehrer.

War „Das lebendige Theorem“ Ihr erstes populärwissenschaftliches Buch? Und planen (oder schreiben) Sie bereits ein weiteres?

Ja, „Das lebendige Theorem“ war mein erstes Buch nach 2010 und ein gewagtes Unterfangen, finde ich. Es war auch nicht meine Idee, sondern die von Olivier Nora vom Grasset-Verlag. Ich selbst wäre nie auf diese Idee gekommen. Die Tatsache, dass das Buch die Wissenschaft als Abenteuer darstellt, viel Rohmaterial eingeflossen ist, komplett in LaTeX geschrieben wurde, dass es sich an Nicht-Mathematiker wenden sollte, ja sogar an Leute, die sich noch nicht einmal sonderlich für Mathematik interessieren, all das machte das Projekt sehr besonders – und mich etwas nervös. Ich erinnere mich noch gut an die Anspannung am Tag der Veröffentlichung und an meine Enttäuschung, als es ein paar negative Kommentare im Internet gab. Ich schlief damals gar nicht gut. Dabei waren das nur ein paar Kommentare von Leuten, die in dem Buch offenbar nicht die mathematische Überraschung fanden, die sie sich gewünscht hatten. Jedenfalls fand das Buch – angekündigt als Stück Literatur – begeisterte Abnehmer und wurde in Frankreich ein großer Erfolg. Inzwischen wurde es in 12 Sprachen übersetzt. Auch im Ausland hängt der Erfolg des Buches aber natürlich stark von dem jeweiligen Kulturverständnis und der Werbestrategie im Land ab, weil das Buch auch leicht missverstanden werden kann.

Inwiefern?

Wie gesagt ist der Fehler, der am häufigsten gemacht wird, dass die Leute denken, in dem Buch würde Mathematik erklärt. Aber das tut es nicht, der Leser lernt darin nichts aus meinem Forschungsgebiet. Es geht vielmehr um alles andere: die Community der Mathematiker, den Umgang miteinander, die besondere Art zu arbeiten, der schwierige Forschungsprozess, die Gefühle dabei, meine persönliche Arbeitsumgebung und meine Gewohnheiten. Das Buch war ein Erfolg in Deutschland, Japan, Korea und ganz besonders in Großbritannien. Dort gab es eine breite Berichterstattung in den Leitmedien, z.B. eine große Hörfunksendung in der BBC mit Lesung eine ganze Woche lang. In Frankreich war es natürlich der größte Hit, hier gab es hunderte von Kommentaren...

Auch sonst setzen Sie sich zur Zeit stark für die Popularisierung von Mathematik ein. Bitte erzählen Sie uns, welche Aktivitäten Ihnen am meisten Spaß machen.

Eine tolle Erfahrung ist es, eine Vorlesung für Schüler zu halten, wenn sie gut läuft. Aber Schreiben ist auch aufregend. In einem Buch ist man in der Lage, Informationen viel umfangreicher, geschickter und emotionaler zu kommunizieren, als in jeder Vorlesung oder Fernsehsendung. Von den Medien ist mir sowieso das Radio am liebsten. Es kommt meiner Sprechweise – lange und gewissenhaft formulierte Sätze – sehr entgegen. Das Fernsehen erfordert Schnelligkeit, bedeutet aber auch eine sehr viel größere Reichweite. Ich liebe es auch, kleine Artikel über Nachrichten aus der Wissenschaft zu schreiben. Zwei Jahre lang schrieb ich alle sechs Wochen für Le Monde, und wenn man die Fallen umgeht – Längenbeschränkung, verrückte Änderungen durch Redakteure, usw. – macht es sehr viel Freude. Ich wurde auch drei oder vier mal als „Gast-Redakteur“ bei einem normalen Nachrichtenblatt eingeladen, daran habe ich gute Erinnerungen. Bloggen ist auch ein guter Weg, um zu informieren oder Leute und Ereignisse zu würdigen. Meine Blogeinträge sind jedoch oft lang und sorgfältig illustriert, deswegen blogge ich auch nicht sehr häufig. Die beste Einzelerfahrung hatte ich jedoch mit meinem illustrierten Roman, einer graphic novel; einerseits weil das Werk aus Eigeninitiative entstand und ein Kindheitstraum von mir war und andererseits, weil die Zusammenarbeit mit dem Künstler außergewöhnlich war. Wir sprachen oder trafen uns fast täglich, und das über einen Zeitraum von zwei Jahren, und wir wurden enge Freunde.

Welche Angebote für die Öffentlichkeit gibt es am Institut Henri Poincaré bereits und was für ein Museum ist neben dem Institut geplant?

Am IHP halten wir öffentliche Vorlesungen, bieten Führungen durch das Institut und Veranstaltungen an, etwa einen Jahrmarkt der Wissenschaft. Wir haben ehrgeizige Pläne für ein Museum in den kommenden Jahren: wir haben die finanziellen Mittel dafür beisammen und die richtigen Leute und Partner um das Projekt zu verwirklichen. Leider haben wir nicht sehr viel Ausstellungsfläche, dafür aber ein außergewöhnliches Gebäude: Es ist 90 Jahre alt und atmet den Geist vieler berühmter Persönlichkeiten, etwa der Physiker Albert Einstein und Jean Perrin oder des Dichters Paul Valéry. Es wird auch Spiele und Exponate für Besucher und Kinder geben, wie in den Museen in Gießen und Dresden. Aber wir wollen auch Sonderausstellungen und Vorführungen machen und Geschichten erzählen. Dabei kooperieren wir auch mit namhaften Unternehmen, für deren Forschungsabteilungen die Mathematik eine zentrale Rolle spielt. Das wird unser Haus weiter bereichern. Aber das ist natürlich ein großes Vorhaben, und unser Museum wird nicht vor 2019 eröffnen. Das ist übrigens auch etwas, das ich gelernt habe: Für jedes ehrgeizige Projekt benötigt man Zeit.

Was ist das Geheimnis oder die Geschichte hinter den Spinnen(broschen)?

Das bleibt ein Geheimnis. Zum einen weil es privat ist, zum anderen, weil es besser ist, den Leuten ihre eigene Interpretation zu lassen; aber die Spinnen sind zu meinem Markenzeichen geworden. Mit den Schmuckspinnen, die ich in Läden erstand, denen, die ich bei Künstlern bestellt habe, und jenen, die mir geschenkt wurden, habe ich mehr als 30 verschiedene Spinnen aus der ganzen Welt gesammelt. Eine meiner Broschen gehörte sogar der berühmten russischen Mathematikerin Olga Oleinik und wurde mir von ihrer Freundin überreicht. Und viele andere Anekdoten kann ich dazu noch erzählen. Zum Beispiel ließ die Ecole Normale Superieure in Lyon anlässlich meiner Fields Medaille eine Gedenkmünze anfertigen, auf die auch eine Spinne eingraviert wurde. Dann wurde ich mal für ein Kinomagazin interviewt – von einer Journalistin mit Spinnenphobie. Nicht nur musste ich für das Interview meine Brosche abnehmen; sondern eine Stunde vorher mussten zwei ihrer Kollegen jegliche Spinnendekoration in meinem Büro kaschieren - und es gibt eine Menge davon.
Auf dem letzten ICM musste ich unter anderem eine Auktion zu Gunsten von Mathematikern in Entwicklungsländern leiten. Eines der Stücke war eine Schmuckspinne, die ich während der Verleihung der Fieldsmedaillen 2010 trug. Die Versteigerung der Stücke basierte großteils auf Zufall, sodass man auch mit wenig Geld etwas bekommen konnte. Die Person, die meine Spinne ersteigerte, war zufälligerweise (oder schicksalsbedingt?) ein mehrfach ausgezeichneter und erfolgreicher „Mathematik-Kommunikator“!

Haben Sie noch Zeit für Forschung?

Momentan nicht. Das mögen viele schrecklich finden, weil ein Forscher natürlich forschen sollte. Anderen mag das als Betrug an der Fieldsmedaille erscheinen, weil diese Auszeichnung ja zu weiterer Forschung anspornen soll. Andererseits habe ich eines in der Forschung gelernt – und jetzt wieder bei Verwaltungsangelegenheiten: Wenn es die günstige Gelegenheit für ein bestimmtes Projekt gibt, dann sollte man besser alle Kraft in den Erfolg dieses Projekts stecken. Auch wenn man in dem Moment andere Dinge, die einem ebenfalls lieb sind, zurückstellen muss. Jetzt habe ich gerade die Möglichkeit, in der Außendarstellung viel für die Mathematik tun zu können, und ich sehe es als meine Pflicht an, diese Chance zu nutzen. Übrigens sehen das viele meiner Kollegen auch so und unterstützen mich dabei.

Das ungekürzte Interview mit Cédric Villani lesen Sie hier!