Sylvie Roelly ist Französin, studierte an der Ecole Normale Supérieure de Paris und machte ihren Doktor und ihre Habilitation an der Université Paris 6. Ein Stipendium führte Sie 1990 (bis 1994) erstmals länger nach Deutschland. Von 2001 bis 2003 war sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Weierstraß Institut für Angewandte Analysis und Stochastik in Berlin. 2003 erhielt sie einen Ruf an die Universität Potsdam. Ihre Forschungsgebiete sind die Stochastiche Analysis, interagierende Teilchensysteme, statistische Mechanik und Diffusionsprozesse. 2007 bekam sie den Itô Preis. Wichtig ist Roelly aber auch das Wissen um die Geschichte der Mathematik. Zusammen mit dem Institut für Jüdische Studien veranstaltete sie einmal ein Seminar mit dem Titel: "Mathematik und rabbinisches Denken im Mittelalter". Als Geschäftsführende Leiterin des Instituts für Mathematik der Universität Potsdam holt sie nun die Ausstellung "Jüdische Mathematiker in der deutschsprachigen akademischen Kultur" nach Potsdam. Die Ausstellung, die an das Wirken vieler herausragender jüdischer Mathematikerinnen und Mathematiker und ihre Verfolgung in der NS-Zeit erinnert, tourt seit dem Jahr der Mathematik (2008) durch die Welt, mit Stationen in Australien, Deutschland, Israel und den USA. Am Nachmittag des 16. April wird die Ausstellung im Foyer des Neuen Palais eröffnet, wo sowohl das Institut für Mathematik als auch das Institut für Jüdische Studien und Religionswissenschaft angesiedelt sind. Mit der engagierten Mathematikerin, die übrigens auch Mutter von fünf Kindern ist, sprach Thomas Vogt.

Sylvie Roelly

(Foto: privat)

Wann und wie haben Sie die Mathematik für sich entdeckt?

In meiner Abiturklasse in Paris habe ich zum ersten Mal die Einheit der Mathematik in ihrer Gesamtheit spüren können. Bis dann hatten wir entweder Unterricht in Arithmetik, (Linearer) Algebra, Geometrie oder Analysis, ohne Verbindung zwischen den Themen. Aber das Thema «Komplexe Zahlen» zeigte uns Schülern unerwarteterweise, wie diese mathematischen Bereiche (wie viele andere) untereinander stark verknüpft sind. Es war die Entdeckung der Kohärenz dieser Ideenwelt und ein Zeichen ihrer irritierenden Schönheit, ein erstes Erlebnis, das schließlich zur Wahl eines Studiums der Mathematik führte. Dann, im Master, erschien mir die Wahrscheinlichkeitstheorie als Wunderland: Einerseits erlaubt der heutige Formalismus (von Kolmogorov) eine tiefe und elegante Entwicklung ihrer theoretischen Seite, andererseits sind stochastische Modellierungen so fruchtbar beim Entziffern der Umwelt, dass eine Vielfalt von Wissenschaften sie heute erfolgreich anwenden. In dieser Hinsicht ist die Wahrscheinlichkeitstheorie eine Kommunikationssprache zwischen vielen Bereichen.

Welche Gründe würden Sie einer jungen Frau heute für ein Mathematik-Studium nennen?

Eigentlich alle guten Gründe, die ich sehe, gelten sowohl für eine junge Frau als auch für einen jungen Mann! Es handelt sich unter anderem um folgende:

  • Man lernt Begriffe und Ideen kennen, die universell sind. Sie wurden von Wissenschaftlern aus der ganzen Welt seit Jahrhunderten entwickelt.
  • Mit einem strukturierten Verständnis in Mathematik hat man machtvolle intellektuelle Mittel, die helfen, die Welt zu entschlüsseln.
  • Die Anwendbarkeit der mathematischen Methoden und Ergebnisse öffnet viele Türen des (internationalen) Arbeitsmarkts.
  • Wenn man eine akademische Karriere anstrebt, hat man viel Freiheit bei der Gestaltung der eigenen Arbeit.

Gab es während ihres Studiums mehr männliche oder mehr weibliche Mitstudierende?

Als ich in Paris studierte in den '80 Jahren, waren fast so viele Frauen wie Männer in den Hörsälen. Und aus meiner Gruppe von Kommilitonninnen sind viele Professorinnen oder Forscherinnen geworden, glücklicherweise.

Haben Sie einen Lieblingsbeweis?

Lévys Charakterisierung der Brownschen Bewegung mit Hilfe von «nur» zwei Martingalen, zusammen mit seinem Beweis, finde ich großartig. Ich finde auch die wahrscheinlichkeitstheoretischen Darstellungen von Lösungen von partiellen Differentialgleichungen wie der Feynman-Kac Formel, deren Beweis «nur» eine fein ausgewählte Itô-Formel ist, sehr originell und elegant. Auf einer anderen Ebene, freue ich mich immer, den Bachelor-Studenten die Bestimmung der Aussterbewahrscheinlichkeit einer Bevölkerung zu beweisen: Man braucht eine Verknüpfung vieler feiner, aber einfacher Argumente aus der Stochastik, der Analysis (u.a. Taylor-Reihen) sowie der Geometrie (Konvexität- und Fixpunkt-Argumente), um zu entdecken, dass (unter bestimmten Annahmen) eine Familie, deren Mitglieder im Durchschnitt nur einen Nachfolger haben, irgendwann verschwinden wird. Es ist der kritische (!) Fall beim Bienaymé-Galton-Watson Prozess.

... es eine artistische Wissenschaft (oder eine wissenschaftliche Kunst?) ist! Sylvie Roelly


Wann haben Sie die Ausstellung "Jüdische Mathematiker in der deutschsprachigen akademischen Kultur" zum ersten Mal gesehen?

Ich habe sie Februar 2009 an der TU Berlin sehen dürfen.

Wie kam es zu der Idee, die Ausstellung an Ihr Institut zu holen?

Als Geschäftsführende Leiterin des Instituts für Mathematik der Universität Potsdam halte ich es für sehr wichtig, dass sich unsere Studierenden – insbesondere die zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer - im Laufe ihres Studiums mit der Geschichte der Mathematik auseinandersetzen. Zumal wir an der Universität Potsdam der einzige Ort im Land Brandenburg sind, an dem Mathematiklehrer ausgebildet werden, kommt uns dabei eine besondere Verantwortung zu. Ich selbst organisierte vor ein paar Jahren gemeinsam mit der verstorbenen Kollegin Prof. Francesca Albertini aus dem Institut für Jüdische Studien ein Seminar mit dem Titel: "Mathematik und rabbinisches Denken im Mittelalter", das auf ein sehr positives Echo bei den Teilnehmenden stieß. Als Beitrag zur Erinnerungskultur wird die Präsentation der Ausstellung die Wahrnehmung für den jüdischen Anteil an der deutschsprachigen Mathematik im 19. und 20. Jahrhundert stärken, welcher vom NS-Regime beinahe vollständig zerstört worden ist und in der Erinnerung von Studierenden zunehmend zu verblassen droht. Der Ort, das Foyer auf dem historischen Campus am Neuen Palais, ist ideal, da sowohl das Institut für Mathematik als auch das Institut für Jüdische Studien und Religionswissenschaft da angesiedelt sind.

Wer hat Ihnen bei der Umsetzung dieses Vorhabens geholfen?

Zuerst sollte man die wertvolle Arbeit der Wissenschaftler, die die Ausstellung "Jüdische Mathematiker in der deutschsprachigen akademischen Kultur" konzipiert und realisiert haben, loben. Es sind Birgit Bergmann, Moritz Epple, Walter Purkert, David E. Rowe, Erhard Scholz und Annette Vogt. Dann möchte ich mich herzlich bei der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft bedanken. Sie hat die teueren Transportkosten unterstützt. Das Präsidium der Universität und das Dekanat der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät haben ebenfalls das Projekt von Anfang an begrüßt und sich finanziell beteiligt. Um das mathematisch-historisch-judaistischen Vorhaben konkret am Ort zu organisieren, steht seit letztem Herbst mein Potsdamer Kollege Prof. Dr. Christoph Schulte, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Jüdische Studien und Religionswissenschaft, an meiner Seite: Diese interdisziplinäre Kooperation bereichert unsere beiden Institute.

Was haben Sie zur Eröffnung geplant?

Wie erwarten Ehrengäste aus dem akademischen mathematischen und dem judaistischen Milieu. Prof. Oliver Günther PhD, Präsident der Universität Potsdam, und Prof. Thomas Brechenmacher, Dekan der Philosophischen Fakultät, werden die Feier eröffnen. Prof. Günter M. Ziegler spricht ein Grußwort und Prof. Moritz Epple von der Goethe-Universität Frankfurt wird die Ausstellungskonzeption erläutern. Als musikalische Umrahmung wird das Cappella Academica Quartett Sätze aus Streichquartetten von Felix Mendelssohn-Bartholdy interpretieren.