Der aus Nordrhein-Westfalen stammende Mathematik- und Physiklehrer Heinz Böer engagiert sich schon seit seinem Studium für den Mathematikunterricht. Er ist kein Einzelkämpfer und hat deshalb schon immer Mitstreiter gesucht. Mit seinen zum Teil revolutionären Unterrichtsideen fand er schnell Freunde und so gegründete er 1981 die Lehrer-Selbsthilfeorganisation MUED e.V. zur Änderung des Mathematikunterrichts. Stephanie Schiemann vom Netzwerkbüro Schule-Hochschule sprach mit Heinz Böer.

 

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(Foto: privat)

Sehr lange setzen Sie sich schon für einen guten Mathematikunterricht ein. Wie und wann hat Ihre Initiative begonnen? Was verbirgt sich hinter der MUED?
1977, direkt nach meinem Mathematik- und Physikstudium an der Uni Münster und vor meinem Referendariat, also vor 35 Jahren im Mai habe ich begonnen, Unterrichtseinheiten zusammenzutragen und selber zu erstellen. So entstanden in den drei Monaten vor dem Referendariat die ersten 50 Unterrichtseinheiten.
1981 gründete ich dann den MUED-Verein. Der Name ist eine Abkürzung für Mathematik-Unterrichts-Einheiten-Datei. Die Idee war und ist, im Unterricht Schülerinnen und Schülern auf die Frage „Wozu soll ich das lernen?" eine gute Antwort geben zu können. Ich möchte der Mathematik mehr Lebensbedeutsamkeit im Unterricht geben. Inzwischen gibt es bei der MUED 1200 Unterrichtseinheiten, die Antworten auf die Eingangsfrage bereitstellen. Größtenteils sind die Materialeinheiten, die traditionell in sogenannten MUED-Tüten (großen Briefumschlägen) stecken, bereits digitalisiert. Die Einheiten haben einen Umfang von bis zu 100 Seiten. Viele Mitglieder haben aktiv an der Materialsammlung mitgewirkt und sich die Inhalte und Methoden auf den jährlich stattfindenden Tagungen in AGs gegenseitig vorgestellt, diskutiert und weiterentwickelt. Die Materialien werden so laufend ergänzt und aktualisiert. Das Inhaltsverzeichnis der Material-Datenbank ist mit Kurzbeschreibungen für jeden sichtbar. Die vollständigen Materialien stehen jedoch nur Mitgliedern zur Verfügung. Im Jahr entstehen vier Rundbriefe, die öffentlich auf der Homepage zum Download bereit stehen. Zudem gibt es seit 2005 ein Aufgabenblatt des Monats, das ebenfalls öffentlich zum Download zur Verfügung steht und auch auf der DMV-Startseite und bei Lehrer-Online verlinkt ist.

...sie einem im Alltag weiter hilft.                     Heinz Böer


Aktuell planen Sie beispielhafte Unterrichtssequenzen für das Wissensmagazin Xenius auf ARTE. Was möchten Sie dort demonstrieren?

ARTE dreht eine Sendung in der Reihe Xenius zum Thema „Mathematik", die im Herbst erscheinen soll. Mich hat ein Redakteur gefragt, ob ich spannende Unterrichtsbeispiele dazu beisteuern könnte. Es soll ein lebendiger, interessanter Mathematikunterricht gezeigt werden. Ich habe dafür zwei Unterrichtsbeispiele herausgesucht:
Im ersten Mathematikprojekt in Klassenstufe 6 geht es um Längen, Flächen und Volumen. Dabei soll nicht nur gerechnet, sondern die berechneten Größen sollen auch durch Bauen veranschaulicht werden. Die derzeit gültigen Hennenkäfig-Normen sind zum 1.01.2012 EU-weit geändert worden, doch tatsächlich eingehalten werden sie nicht in allen EU-Ländern. Die Idee in diesem Mathematikprojekt ist nun, die Käfig-Daten für Hennen von den Schülern auf die Schülergrößen hochrechnen zu lassen und dann die Käfige aus Holz zu bauen. Am Ende kriechen die Schülerinnen und Schüler selbst in die fertigen Käfige hinein und fühlen sich somit wie Hennen. Alle Längen-, Flächen- und Volumenumrechnungen kommen in diesem Projekt vor. Ursprünglich entstand die Idee für dieses Unterrichtsprojekt aus einem Zeitungsartikel über Tierhaltungsvorschriften. Tiere mögen Kinder in dem Alter sehr gerne. Als sie durch Nachrechnen und -zeichnen sahen, wie eng eine Henne ihr Leben fristen muss, wollten sie mit einer spektakulären Informationsaktion „die Öffentlichkeit" aufrütteln. Daraus entstand das Hennenkäfigprojekt.
In einem anderen Mathematikprojekt geht es darum, wie man mit Statistik lügen kann, also einen falschen Eindruck der Tatsachen vermitteln kann. In dem Kurs sollen gravierend verfälschende Statistiken aus der Zeitung zum Thema „Soziale Schieflage in Deutschland" bearbeitet werden. Die Wahrnehmung der Statistiken wird diskutiert und inhaltlich interpretiert. Die Erkenntnis der Schülerinnen und Schüler am Ende ist ein Misstrauen gegenüber Statistiken und eine entsprechende Prüfungskompetenz gegen den ersten Eindruck. Genau dies genaue Hinschauen und kritische Interpretieren will ich im Mathematikunterricht fördern.

heinzboer2 Die Grafik zeigt, dass die Schere zwischen arm und reich in Deutschland seit 1997 auseinander geht. Aber zumindest scheint das immer schnellere Auseinander-klaffen zumindest gestoppt. Der Abstand wird immer noch größer, aber er nimmt nicht mehr schneller zu. – Denkt man bei präziser Interpretation der beiden Kurven.

Aber: Alles Unsinn! Der Blick auf die Jahresangabe unten zeigt, dass nach den 4-Jahres-Abständen als letztes ein 1-Jahres-Abstand folgt. Vergleicht man die Entwicklung pro Jahr, so wird klar: Die Zunahme des Volkseinkommensanteils der 20 % Reichsten erhöht sich von 0,3 % pro Jahr (Durchschnitt 2001/ 2005) auf mehr als das Doppelte: 0,7 %, während die Abnahme des Anteils der 20 % Ärmsten sich geringfügig verlangsamt von 0,125 % auf 0,1 %.

Mathematik kann den Blick schärfen und aufklärend wirken – auch bei wirtschaftlichen Themen.

Bild-Quelle: Frankfurter Rundschau vom 10.09.2009

Nennen Sie doch bitte Ihre Lieblingsbeispiele aus Ihrer reichhaltigen Sammlung von Unterrichtsmaterialien.
Das Hennenkäfig-Projekt ist eines meiner Highlights. Ein anderes ist das Projekt „Wasser", in dem u.a. die Toilettenabwassermenge pro Person und Jahr berechnet und als 16 m3-Quader gebaut wird. Oder auch mein großes Projekt „ARRA" - ein Konzept zu einem Analysis-Unterricht für Realistische und Relevante Anwendungen als Sammlung von Arbeits- und Materialblättern quer durch die gesamte Oberstufe. Aktuell schreibe ich in dieser Reihe an einem termfreien verständnisorientierten Vertiefungskurs zur Analysis. Dieser Kurs ist in NRW für schwache Mathematikschüler (Note 4 oder 5 in Mathe Kl. 9) eingerichtet worden, um die Lücken der Mittelstufe aufzuarbeiten. Meine Schülerinnen und Schüler machen zu Beginn einen Diagnosetest, um Lücken zu identifizieren, die sie dann mit einem Selbstlernprogramm aufarbeiten können. Begleitend führen sie ein Lerntagebuch. Ich stehe als Berater zur Verfügung und korrigiere die Selbsttests nach jedem Wiederholungsteil. Eine Broschüre mit CD dazu wird in Kürze im MUED-Shop zu kaufen sein.

Die Schule hat sich in den letzten 30 Jahren stark verändert, nicht nur die Rahmenbedingungen, auch die Inhalte und die Methoden. Wie sind Ihre Erfahrungen bezüglich des Übergangs von der Schule zur Hochschule?
Nun, ich habe einen eigenen Sohn, der jetzt auch Mathematiklehrer werden möchte und kurz vor dem Bachelor steht. So habe ich einen aktuellen Einblick in die Uni-Mathematik und muss sagen, dass sich dort - zumindest in den Anfangssemestern - nach meinem Eindruck sehr viel weniger geändert hat als in der Schule. Z.B. werden in der Schule inzwischen häufig Graphik- oder CAS-Taschenrechner verwendet, selbstverständlich sind der Computereinsatz für dynamische Geometrieprogramme und Tabellenkalkulation. Auch die Prüfungen werden inzwischen häufig mit diesen Rechnern absolviert. In der Uni hingegen dürfen die jungen Studierenden keinerlei Taschenrechner benutzen, noch nicht einmal zum Multiplizieren. Das macht den Einstieg in das Mathematikstudium für viele technikbegeisterte Studenten schwer, die in der Schule verstärkt mit den neuen Medien gearbeitet haben. Zudem muss ich feststellen, dass die Professorinnen und Professoren oftmals keine Kenntnis der aktuellen Mathematik-Lehrpläne der gymnasialen Oberstufe haben. Manche Themen sind inzwischen schlichtweg gestrichen oder fakultativ. Hier dürfen die Professorinnen und Professoren - zumindest am Anfang des Studiums - fairerweise nur voraussetzen, was tatsächlich Gegenstand von Abiturprüfungen für alle ist.
Sowohl über effektive Lehrmethoden als auch über relevante Anwendungszusammenhänge gibt es in der Mathematiklehrerschaft zudem ein breites Wissen, das in einem Austausch auf Augenhöhe bereichernd für die Hochschulen sein könnte.