Uwe Küster, mein Vater, hat in den Siebzigerjahren Mathematik an der Universität des Saarlandes studiert. Seine Liebe zur Mathematik prägt ihn bis heute. Die längste Zeit seines Berufslebens arbeitete er am Höchstleistungsrechenzentrum der Universität Stuttgart (HLRS), wo er bis zu seinem Ruhestand Leiter der Numerischen Abteilung war. Sein Blick geht zurück auf über vier Jahrzehnte Berufstätigkeit, in denen er die Entwicklung der Computer und der damit verbundenen mathematischen Methoden eng erlebte. Sein Erfahrungsschatz erlaubt auch einen Blick auf die Rolle der Mathematik in der Zukunft.

KuesterUwe Küster. Foto: privat

Wenn man heute Mathematik studiert, dann begegnet einem früher oder später der Satz „Mit Mathe kann man alles machen“. Man studiert mit dem Gefühl, dass man sehr gute Berufsaussichten hat. Wie war das, als Du studiert hast?

Die Berufsaussichten waren auch damals nicht schlecht, aber ein bisschen merkwürdig und differenziert. Die Frage war eher, was willst Du denn mit Mathe machen? Man musste in andere Fächer einsteigen, also man lernte nicht gezielt etwas für den späteren Beruf.

Was heute eigentlich immer noch so ist.

Was vielleicht immer noch so ist, aber heute ist die angewandte  Mathematik sehr viel stärker, denke ich. Damals verstand man etwa Funktionalanalysis als angewandte Mathematik.

Was wolltest Du also mit Mathe machen? Was waren Kriterien Deiner beruflichen Orientierung?

Damals waren zwei Dinge sehr bedeutsam, auch als Berufsfelder von Mathematikern: Die Entwicklung von Rüstungstechnik und Atomkraft. Beides wollte ich nicht. Ich habe mich dann eher Alternativen zugewandt.

Die längste Zeit Deines Berufsleben hast Du am heutigen Höchstleistungsrechenzentrum Stuttgart (HLRS) gearbeitet. Was ist das HLRS?

Das HLRS kann man als eine Art Dienstleister verstehen, der sogenannte Supercomputer zur Verfügung stellt. Mit Hilfe dieser Supercomputer können Kunden, typischerweise sind das Wissenschaftler, sehr komplexe Simulationen berechnen lassen.

Kannst Du ein paar Beispiele nennen, was dort simuliert wurde?

Die führende Rolle spielten Strömungsprobleme, die immer sehr viel Rechenzeit beansprucht haben. Es gab beispielsweise Interessenten, die Wetter und Klima angegangen sind. Ein Kollege aus Hohenheim etwa hat vor ein paar Jahren eine Wettersimulation, also keine Klimasimulation, für einen Zeitraum von mehreren Monaten rechnen lassen. Das war zu der Zeit ein unüblicher Ansatz und eines der ersten Male, dass so etwas überhaupt gemacht wurde. Diese Simulation beanspruchte den halben Rechner für eine ganze Woche. Dabei sind interessante Dinge rausgekommen, die man sicherlich nicht eins zu eins in die Wettervorhersage der Tagesschau hätte übernehmen können, aber zum Beispiel konnte man entfernt das Verhalten bestimmter Taifune berechnen und großräumige Wetterlagen. Von Kollegen der Uni Stuttgart wurden Strömungsprobleme von Hubschraubern berechnet, da ging es etwa um die Wirbel, die sich um die Rotoren bilden. Es gab Projekte zur Umströmung von Windkraftwerken und zur Interaktion verschiedener Windkraftwerke, die im Windschatten zueinander sind. Ich persönlich hatte viel Kontakt zu Kollegen in Aachen, die einen eigenen Strömungscode entwickelt haben. Die haben zum Beispiel das Verhalten des flüssigen Stahls beim Stahlgießen berechnet. In Richtung Strömung gibt es noch eine ganze Reihe anderer Dinge, etwa Blutströmungen. Wie sehen Strömungen in der Aorta aus? Und wie hängen die zusammen mit möglichen auftretenden Krankheiten? Wir haben damals etwa Strömungen in Aneurysmen berechnet. Außer Strömungsproblemen gab es natürlich auch andere Ansätze wie Vielteilchenprobleme, die Probleme der Gasdynamik berechnen, oder Struktur- und Strukturdynamikberechnungen.

Die Probleme, die Du gerade beschrieben hast, wurden am HLRS auf einem sogenannten Supercomputer gerechnet. Was ist ein Supercomputer?

Ein Supercomputer ist ein sehr leistungsfähiger Computer, den man sich aber nicht vorstellen kann wie einen besonders starken Laptop. Ein Supercomputer füllt heute einen Raum der Größe einer Turnhalle aus. Was ein Supercomputer ist, das ist auch immer historisch zu verstehen. Ein fünf Jahre alter Supercomputer ist keiner mehr. Er wird dann ersetzt durch neuere leistungsfähigere Maschinen.
Da gibt es immer wieder neue Ideen, wie man Rechner in einer Weise baut, dass sie noch leistungsfähiger werden. Die frühen Supercomputer waren sogenannte Vektormaschinen. Heute ist jeder PC-Prozessor ein Vektorrechner. Ab den Neunzigerjahren haben sich dann sogenannte Parallelrechner entwickelt. Die bestehen naiv gesagt aus einer großen Anzahl von einzelnen Prozessoren, die auf eine gewisse Weise miteinander gekoppelt sind und über sehr viele sogenannte Cores verfügen. Ein aktueller Supercomputer hat mehr als eine halbe Million Cores. Mit Supercomputern muss man umgehen können, man kann sie nicht verwenden wie einen PC. Eine Besonderheit von Supercomputern ist auch ihr Stromverbrauch. Der heute am HLRS installierte Rechner Hawk braucht bis zu vier Megawatt, das entspricht ungefähr der Leistung von zweitausend Waschmaschinen. Der nächste Rechner wird wahrscheinlich das Doppelte brauchen. Man muss diese Rechner in geeigneter Weise kühlen, was immer ein Problem ist. Inzwischen versucht man, die abgegebene Wärme wiederzuverwenden, zum Beispiel zum Heizen. Das war vor zwanzig Jahren noch kein Thema.

Wie verlief Dein beruflicher Weg zum HLRS?

Meine erste Stelle nach dem Studium hatte ich am damaligen Institut für Raumfahrtantriebe der Universität Stuttgart als wissenschaftlicher Angestellter. Dort bestand meine Arbeit darin, dass ich für zweidimensionale Strömungsprobleme Berechnungsnetze generieren sollte für Kollegen, die Strömungscodes entwickelten. Das war alles noch im Aufbau begriffen. Später habe ich mich mit der Programmierung zur Lösung von dreidimensionalen Euler-Gleichungen, also Strömungsgleichungen, beschäftigt. So kam ich in Kontakt zu den Strömungsleuten und was ich zu dieser Zeit auch kennengelernt habe, sind Rechner. Während dieser Tätigkeit am Institut für Raumfahrtantriebe wurde am Rechenzentrum der Uni Stuttgart ein moderner Rechner installiert, der in eine ganz andere Klasse gehörte. Das war eine Cray-1, ein Vektorrechner, der, geeignet programmiert, sehr schnell war. Ich war immer auf Arbeitssuche. Als wissenschaftlicher Angestellter, heute nicht anders als damals, hatte man Zeitverträge. Wenn man, wie ich, eine Familie hatte, musste man halt gucken, wie man zurecht kam. Ich hörte dann davon, dass am Rechenzentrum der Uni eine neue Abteilung im Umfeld von Hochleistungsrechnern aufgebaut werden sollte. Dort habe ich eine Stelle gefunden, die zwar immer noch befristet war, aber Perspektiven hatte. Es wurden eine ganze Reihe Leute neu eingestellt, die sich um dieses Thema kümmern sollten. Ich habe mich dann damit beschäftigt, wie man Programme umsetzt, damit sie auf Hochleistungsrechnern effizient funktionierten. Ein Jahr nachdem ich ans Rechenzentrum gekommen war, ging es um die Frage, die Cray-1 zu ersetzen. Dazu musste das Rechenzentrum umgebaut werden. Im Zusammenhang mit der neuen Maschine, Cray-2, war ich dann stark involviert. Auch diese war ein Vektorrechner, der hatte bereits vier Prozessoren und ein sehr großes Memory, nämlich zwei Gigabyte. Darüber wird man heute schmunzeln.

Wie entstand aus dieser neuen Abteilung schließlich das Höchstleistungsrechenzentrum Stuttgart?

Wir haben in dieser Gruppe von über zehn Leuten ganz erfolgreich gearbeitet, hatten Kunden von der Uni Stuttgart und aus ganz Baden-Württemberg, auch aus der Industrie. In der Folge haben wir weitere Rechner installiert und dann ergab sich aber die Frage, wieder eine Stufe weiterzukommen und einen größeren Rechner zu installieren. Dafür gab es zunächst kein Fördergeld, sodass wir einen anderen Weg beschritten haben. Wir haben vorgeschlagen, dass man einen Rechner installiert, der bundesweit zu nutzen wäre. Und tatsächlich war es dann so, dass wir Mitte der Neunzigerjahre eine Freigabe des Geldes durch Bund und Land erwirken konnten. Das ging einher mit einer Neugründung des sogenannten Höchstleistungsrechenzentrums der Universität Stuttgart. Wir haben dann den Beschaffungsvorgang angeleiert und gleich zwei Rechner angeschafft, einen NEC- Vektorrechner und einen Cray-Parallelrechner.

Du warst also in den Aufbau des HLRS involviert. Was war außerdem Deine Rolle am HLRS, womit hast Du Dich dort beschäftigt?

Ein Punkt, der mich mein Leben lang begleitet hat, ist die Rechnerbeschaffung. Es ist nicht so, dass man in ein Elektrogeschäft geht und sagt, ich möchte einen neuen Rechner kaufen, sondern das war immer die Arbeit eines Jahres oder sogar länger. Der Beschaffungsprozess umfasst, die Rechner verschiedener Firmen, die neue Angebote machten, zu begutachten, zu verstehen, zu analysieren, um zu sehen, was sie können und ob sie die Wünsche unserer Benutzer treffen. Dafür bin ich mit meinen Kollegen in der Welt herumgereist. Wir sind mehrere Male im Jahr in die USA oder nach Japan geflogen, auch noch in andere Länder. Kontakt hatten wir nicht nur zu den Firmen, die diese Rechner hergestellt haben, zu den Spezialisten, die erzählen konnten, was sie getan haben, wie sie es tun wollten und was dann möglich ist, sondern auch zu verschiedenen Wissenschaftlern, die in diesem Umfeld tätig waren. Ich habe das HLRS also in verschiedenen Punkten nach außen vertreten.

Hat Dein mathematischer Hintergrund dafür eine Rolle gespielt?

Auf den ersten Blick würde man meinen, das hat relativwenig mit Mathematik zu tun. Aber tatsächlich hatte ich als Mathematiker nicht einfach einen praktischen Blick auf die Dinge, sondern habe immer versucht, den Dingen ein bisschen tiefer auf die Spur zu kommen und mich nicht blenden zu lassen durch menschlichen Auftritt, durch Behauptung, durch Gewohnheiten. Ich wollte immer verstehen, weshalb Dinge so funktionieren, wie sie funktionieren, und war dabei bekannt für meine kritischen Fragen. Das amüsiert meine Kollegen noch heute.

Wie fandest du es eigentlich, so viel zu reisen?

Das waren für mich sehr lehrreiche Jahre, die hochinteressant, aber auch sehr anstrengend waren. Ich habe viel gesehen, wobei das Besondere ist, dass ich ja kein Urlaubsreisender war, sondern im gleichen Umfeld gereist bin, aus dem ich bin: Techniker, Wissenschaftler, Computerleute. Interessant war, wie viele Unterschiede es da zwischen den Ländern gibt, was ich beeindruckend und die Erkenntnis bereichernd fand. Es gab Kontakte, die zur Zeit des Eisernen Vorhangs nicht zu erwarten gewesen waren, namentlich zu den Kollegen und Kolleginnen in Russland, Ukraine, Kasachstan. Aus aktueller Sicht ist das merkwürdig, weil sich die Kontakte zu Ukraine und Russland überschnitten haben. Orte wie Kiew und die Krim haben für uns eine tiefe Bedeutung. Wir hatten eine persönliche Verwobenheit, nicht nur einfach wissenschaftliche Kontakte. Das war interessant, es war berührend. Das war der Traum, dass über Wissenschaft Kontakte entstehen, tiefmenschliche Kontakte. Sprich, ich lebte in einer Form der Utopie.

Was waren weitere Bereiche Deiner Arbeit am HLRS?

Eine weitere Aufgabe war, mit den Benutzern unserer Supercomputer Kontakt zu halten, um sie in der Benutzung der Rechner zu beraten und zu sehen, was sie wollen. Außerdem war ich in der Lehre tätig. Ich habe lange Jahre eine Vorlesung zu Numerik für Höchstleistungsrechnen für Ingenieure gehalten. Aus dem Grund habe ich mich immer mit numerischen Techniken beschäftigt, die für diese Art von Computing relevant sind, zum Beispiel mit Diskretisierung von partiellen Differentialgleichungen. Ein Thema, das mich im Hinblick auf neue Rechner begleitet hat, ist die Ineffizienz der Programme. Wenn man Glück hat, erreichen die Rechner auf den Simulationsprogrammen fünf Prozent der sogenannten Peak Performance. Die Codes sind nicht geeignet gemacht. Das war natürlich immer ärgerlich und hatte auch immer bestimmte klare Gründe, denen man nicht einfach aus dem Weg gehen konnte. Das ist ein Problem des modernen Programmierens.

Welche fachlichen Hintergründe hatten Deine Kolleginnen und Kollegen am HLRS? Kamen viele aus der Mathematik?

Zum Beispiel der Leiter des HLRS, Michael Resch, hat Technische Mathematik studiert. In den Neunzigerjahren hatte ich ein paar Kollegen mit einem mathematischen Hintergrund, aber nicht viele. Die Uni Stuttgart ist primär eine ingenieurtechnische Uni und von dort kamen viele Leute.

Wenn man Mathe studiert und sich für den Bereich High Performance Computing interessiert, wie kann man sich darauf vorbereiten? Was sollte man mitbringen?

Eine Sache, die ich während des Studiums nicht gelernt habe, waren partielle Differentialgleichungen. Vielleicht muss ich auch schamhaft zugeben, dass mich das damals gar nicht interessiert hat. Viele Differentialgleichungen wurden schon vor langer Zeit aufgestellt, in den Jahren nach der französischen Revolution. Sie haben abstrakt beschrieben, wie verschiedene physikalische Vorgänge ablaufen. Aber erst in den letzten hundert Jahren kann man sie wirklich praktisch nutzen. Diese Differentialgleichungen werden allemal noch eine größere Bedeutung haben, mit allen möglichen Finessen, die dabei denkbar sind. Es ist also hilfreich, sich damit auszukennen. Was ich einem Studenten empfehlen würde, ist, dass er sich auch in Richtung Numerik umguckt. Auch Funktionalanalysis hat tatsächlich eine praktische Seite. Man muss diese aber sehen.

Was hat sich in Deinem Berufsalltag im Laufe der Zeit geändert? Insbesondere Computer steckten ja erst in den Kinderschuhen, als Du ins Berufsleben eingestiegen bist.

In den letzten fünfzig Jahren haben sich die Dinge in jeder Richtung weiterentwickelt. Die Entwicklung der Computer in dieser Zeit ist mit einer Geschwindigkeit geschehen, die nicht zu erwarten war. Im großen Maße wurden Computer ab den Siebzigerjahren verfügbar, also nicht nur an speziellen Orten für ganz wenige Leute, sondern dass sie überall an den Universitäten Platz gefunden haben. Das hat vieles stark gepusht, etwa in Richtung Entwicklung und Bereitstellung von Rechnern und Programmiersprachen, und auch numerische Verfahren sind deutlich weitergekommen. Informatik fing zu dieser Zeit als selbstständiges Fach an. Witzigerweise saß ich als studentischer Vertreter in der Berufungskommission der ersten Informatikprofessuren an der Universität des Saarlandes. Natürlich gab es auch vorher innerhalb der Mathematik Professoren, die sich mit Informatik befassten, aber eben nicht als eigenständiger Disziplin. Das zeigt auch eine Verwandtschaft von Mathematik und Informatik, die aber nicht so eng ist. Informatik ist sicher kein Kind der Mathematik, aber verwandt. Das Interesse, numerische Techniken in großem Maße anzuwenden, kam zum Beispiel stark von Ingenieuren.
In meinem Berufsfeld war die praktische Lösung der Navier-Stokes-Gleichung sehr bedeutsam. Im dreidimensionalen Fall, das ist der relevante Fall, ist diese deutlich weitergekommen. Dabei gibt es noch keine mathematische Lösungstheorie für Existenz und Eindeutigkeit. Für die Entwicklung von Maschinen, etwa Flugzeugen, Raketen, Turbinen, Verbrennungsmotoren, hat man dadurch in mannigfaltiger Weise einen hervorragenden Fortschritt gesehen.
Auch andere Dinge haben sich weiterentwickelt. Als ich an die Uni Stuttgart kam, gab es da verschiedene Institute, die sich mit Windkraft beschäftigt haben. Damals war das etwas Absonderliches, Irreales. Damals gab es auch Träume zu Photovoltaik und das war im öffentlichen Rahmen schier absurd. Das hat so etwas Merkwürdiges. Die Merkwürdigkeit liegt in der Unerwartbarkeit. Sprich, es gibt Dinge, die sich innerhalb eines Menschenlebens wesentlich ändern. Ein anderes Beispiel sind Smartphones. In den Siebzigerjahren gab es so etwas nicht. So etwas war zu der Zeit vielleicht denkbar, aber wurde nicht gedacht. Jetzt ist die Frage, was denken wir uns heute nicht, was noch kommen wird. Ich ahne nur, Mathematiker werden eine Rolle spielen.

Wie war es, mit den frühen Computern zu arbeiten?

In meiner Anfangszeit setzte man Rechner noch mit Lochstreifen und Lochkarten in Gang. Das Programmieren fing bei mir auf einem Lochkartenlocher an. Für jede Instruktion hat man eine Lochkarte erstellt, die man dann in einen großen Kasten eingestellt hat zur Weiterverarbeitung im Computerhauptraum, wo der Operator diesen Kasten entgegennahm und die Lochkarten eingelesen hat. Das Programm lief dann nach ein paar Stunden, die man warten musste. Schließlich kam das Ergebnis raus und das bestand vielleicht darin, dass schon die erste Karte falsch war.
Es gab an unserem Institut später auch einen Bildschirm ausschließlich für Text, der mit diesem Computer verbunden war. Der Bildschirm für Visualisierung war in einem anderen Gebäude. Er war rund, ungefähr sechzig Zentimeter im Durchmesser und die Bildröhre war mehrere Meter lang, damit man Bilder ohne große Verzerrung darstellen konnte. Die Bildschirme teilten sich alle, und es gab eine Liste, wer wann für eine Stunde dran war. Nach und nach hat sich das weiter geändert. Später hatten wir einige PCs, die in der Lage waren, selbst Programme zu verarbeiten, aber im Wesentlichen als Bildschirm benutzt wurden. Es gab schließlich auch einen angeschlossenen Drucker, was sehr günstig war, damit man sein Programm direkt ausdrucken und die Fehler suchen konnte. Vieles war also sehr wohl möglich, hat aber eine Weile gedauert.

Du warst sowohl eng an der Entwicklung der Computer dran, als auch an den numerischen Methoden. Denkst Du, für die Zukunft ist es realistischer, dass die Computer noch schneller werden oder dass die mathematischen Methoden sich verbessern?

Das schließt sich gegenseitig nicht aus. Natürlich werden die Computer schneller und größer. Der Fortschritt ist noch nicht gebrochen, obwohl abzusehen ist, dass die Integrationsdichte bestimmte Grenzen hat. Aber auch da gibt es Jahr für Jahr deutliche Verbesserungen. Ich selbst erhoffe, dass man in der Computerarchitektur noch ein paar klare Entwicklungen macht. Ich sehe da ein paar Schwächen zum Beispiel in der Parallelität. Wenn man hunderttausende von parallelen Prozessen hat, dann sind die schwer zu koordinieren für die Programmierer. Ich könnte mir denken, dass es da Schritte gibt, die heute noch nicht sichtbar sind. Welche Rolle moderne Formen des Computing spielen, wird man sehen. Im Moment ist ja Quantencomputing in aller Munde, da wird man erstmal abwarten, wie diese Systeme auf numerischen Problemen funktionieren.
Die ersten Computer im heute vernünftigen Sinne sind im Zweiten Weltkrieg entstanden. Das ist noch keine Zeit. Das ist nur ein menschliches Leben. Das gilt auch für die numerischen Techniken, die damit verknüpft sind. Zum Beispiel arbeitet man heute nicht mehr mit riesigen vollbesetzten Matrizen der Dimension eine Million, die dann auf irgendeine Weise Operatoren approximieren, sondern man hat viel größere Räume, sprich eine Milliarde Unbekannte. Matrizen, die Operatoren in solchen Räumen beschreiben würden, wären nicht speicherbar, aber man kann sie in einer anderen Form darstellen, indem man nur die Elemente speichert, die von Null verschieden sind. Das sind dann sogenannte dünn besetzte Matrizen.
Für die gibt es ganz andere Verfahren als für die dicht besetzten Matrizen. Bei den entsprechenden Verfahren ist viel passiert. In der Richtung würde ich erwarten, dass es da noch allerlei Fortschritte gibt, um zum Beispiel Eigenwerte zu berechnen; nicht etwa alle Eigenwerte und Eigenvektoren, sondern nur die, die einen interessieren. Ich sehe auch andere mögliche Entwicklungen, etwa dass es für die Diskretisierung partieller Differentialgleichungen noch sehr andere Methoden gibt als die, die man heute sieht, die eine genaue Approximation auf der einen Seite erlauben und ein schnelleres Rechnen auf der anderen Seite. Ich könnte mir auch vorstellen, dass man in Zukunft in der Graphentheorie verschiedene Fortschritte sieht, dass man erkennt, wie sich Dinge innerhalb von Netzen verhalten, etwa in der Ökonomie. Da würde ich erwarten, dass nicht die Ökonomen die Fortschritte machen, sondern eher die Mathematiker. Das ist jetzt allerdings sehr spekulativ.
Ein ungeheuer wichtiges Feld ist auch, was man seit fünfzig Jahren Chaostheorie nennt. Wenn man zum Beispiel eine Crash-Analyse hat, dann ist das ein nicht wohlgestelltes Problem. Also sprich, man macht in den Kofferraum eines virtuellen Automodells noch eine extra Schraube rein und bekommt ein anderes Ergebnis heraus. Darüber sind die Ingenieure selbstverständlich unglücklich. Ich habe dieses Unglück kennengelernt und auch bei den Leuten, die mit der Wettervorhersage beschäftigt waren, dass sie von einer Maschine auf die andere gehen, mit einem anderen Compiler, mit ein bisschen anderer Hardware und sie erhalten auf einmal andere Ergebnisse. Das hat aber keinen ingenieurtechnischen, sondern einen mathematischen Grund. Auch bei den bildgebenden Verfahren, denke ich, wird man noch verschiedene andere Sachen sehen. Als Traum zum Beispiel, dass man Ultraschallaufnahmen des sich bewegenden Körpers macht, in einem dreidimensionalen Zusammenhang. Oder dass man aus einem CT-Bild das Adersystem ausdifferenzieren kann. Wer spielt dafür eine Rolle? Ganz klar Mathematiker. Also, die praktischen Anforderungen an Mathematik werden größer werden. Und jetzt ist zu hoffen, dass die Mathematiker darauf reagieren. Es erfordert Mathematiker, die einen offenen Blick für solche Sachen haben, die also sehen, was bei den Ingenieuren, Medizinern oder bei den Wetterleuten interessant ist, und verstehen, wir hätten da Lösungen. Von mathematischer Seite könnten Ideen kommen, an die man heute nicht denkt.
So hatte ich das eigenartige Erlebnis, dass Kollegen aus Aachen eine Methodik verwenden wollten, um sozusagen Eigenwerte von Strömungsproblemen, also von nichtlinearen Problemen, zu berechnen. Ich dachte, was soll denn das, das geht doch gar nicht und habe mich sehr gewundert.
Ich sprach schließlich mit Dir und Du verwiesest mich auf die Arbeiten Deines Professors Rainer Nagel und dessen Kollegen zum sogenannten Koopman-Operator, der gewissermaßen ein nichtlineares System in ein lineares System übersetzt, das dann Eigenmoden hat. Das war ein eigentümlicher Bogen, der mich sehr nachdenklich gemacht hat und zeigt: Alte mathematische Ansätze können für Probleme aus den Ingenieurwissenschaften relevant werden. Vielleicht wird die große Zeit der Mathematik erst noch kommen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Gespräch führte Kari Küster.
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