Dierk Schleicher und Malte Lackmann (Hrsg.)
Springer Spektum 2013, xv + 228 Seiten, 24,99 €
eBook: 19,99 €
ISBN 978-3642257971
ISBN 978-3642257988
Der Untertitel der englischen Originalausgabe lautet „From Competitions to Research“. Doch geht es in der von Dierk Schleicher, Professor an der Universität Bremen, und Malte Lackmann, erfolgreicher Teilnehmer der Internationalen Mathematik- Olympiade, herausgegebenen „Einladung in die Mathematik“ nicht nur um das Verhältnis von Wettbewerb und Forschung in der Mathematik. Auf etwas über 200 Seiten sind (nach einem Vorwort von Günter M. Ziegler und einer Begrüßung durch die Herausgeber) 14 voneinander unabhängige Beiträge von Mathematikern höchsten Ranges zusammengestellt. Die meisten der Autoren haben schon mit zahlreichen Preisen auf sich aufmerksam gemacht, sogar vier Gewinner der Fields-Medaille sind darunter:
(1) Struktur und Zufälligkeit der Primzahlen (Terence Tao)
(2) Wie man Diophantische Gleichungen löst (Michael Stoll)
(3) Vom Kindergarten zu quadratischen Formen (Simon Norton)
(4) Kleine Nenner: Zahlentheorie in dynamischen Systemen (Jean-Christophe Yoccoz)
(5) Sind IMO-Aufgaben wie Forschungsprobleme? (W. Timothy Gowers)
(6) Sind Forschungsprobleme wie IMO-Aufgaben? (Stanislav Smirnov)
(7) 45 Jahre Graphentheorie (László Lovász)
(8) Die Komplexität der Kommunikation (Alexander A. Razborov)
(9) Zehnstellige Probleme (Lloyd N. Trefethen)
(10) Regulär oder singulär? Mathematische und numerische Rätsel in der Strömungsmechanik (Robert M. Kerr und Marcel Oliver)
(11) über die Hardy-Ungleichung (Nader Masmoudi)
(12) Der Löwe und der Christ, und andere Verfolgungs- und Fluchtspiele (Béla Bollobás)
(13) Drei mathematische Wettbewerbe (Günter M. Ziegler)
(14) Komplexe Dynamik, die Mandelbrot-Menge und das Newton-Verfahren – oder: Von nutzloser und nützlicher Mathematik (Dierk Schleicher)
Es würde den Rahmen sprengen, auf jeden dieser Beiträge genauer einzugehen. Ganz kurze Bemerkungen werden genügen müssen, um anzudeuten, was sich Leserin und Leser erwarten dürfen und inwiefern der Band als Antwort auf die im Vorwort von Günter M. Ziegler als Generalthema aufgeworfene Frage „Was ist Mathematik?“ zu gelten vermag. Wie Ziegler schreibt, sollten wir mit keiner kurzen, abschließenden Antwort auf diese Frage rechnen. Und – auch wenn wir von der Antwort keine Endgültigkeit fordern – wieviel Raum benötigt eine wenigstens zufriedenstellende Antwort?
Es ist einer der oben aufgelisteten Autoren, der diesbezüglich Maßstäbe vorgegeben hat: Timothy Gowers hat eine kleine (bei Reclam auch in deutscher Übersetzung vorliegende) populärwissenschaftliche Schrift mit dem Titel Mathematics – a very short introduction verfasst. Außerdem ist er sowohl Herausgeber als auch Autor beträchtlicher Teile des sehr umfassenden „Princeton Companion to Mathematics“. Wie in der hier zu besprechenden „Einladung in die Mathematik“ sind darin Beiträge zahlreicher namhafter Autoren versammelt – allerdings innerhalb eines weit gesteckten Rahmens von über 1000 Seiten und mit dem (in beeindruckender Weise eingelösten) Anspruch, sehr unterschiedlichen Aspekten von Mathematik gerecht zu werden.
Im Gegensatz zu Gowers’ „Companion“ sind die 14 Artikel der „Einladung“ nicht Teil einer groß angelegten Architektur, sondern stehen auf durchschnittlich 15 bis 20 Seiten jeweils für sich.
So gibt beispielsweise Tao in (1) auf nur 8 Seiten eine extrem konzise und klare Einführung in die zentralen Fragen der Primzahlverteilung. Auch (2) und (3) sind der Zahlentheorie zuzuordnen. Das ist deshalb kein Zufall, weil gerade in der Zahlentheorie auch viele schwierige und sogar offene Probleme ohne großen begrifflichen Aufwand formuliert und somit auch dem Studienanfänger oder interessierten Laien erklärt werden können. Ähnliches gilt für Graphen- und Komplexitätstheorie, denen die Beiträge (7) bzw. (8) gewidmet sind. Gleichfalls relativ leicht zugänglich sind Grundfragen der Numerik, die in (9) anhand kurzweiliger, an sportliche Wettbewerbe erinnernden Beispielen erklärt werden. Die Artikel (5), (6) und (13) thematisieren explizit das Verhältnis von mathematischem Wettbewerb und mathematischer Forschung. Naheliegender Ansatzpunkt, um Interesse zu wecken, sind natürlich auch die vielfältigen Anwendungen der Mathematik. Auch auf solche zielt (11) ab – selbst wenn gerade der Name Hardy so sehr wie kaum ein anderer mit reiner, anwendungsferner Mathematik assoziiert wird und die Hardy-Ungleichung zunächst auch lediglich als eine Formel neben mehreren anderen eingeführt wird. In (4) illustriert Yoccoz am Beispiel dynamischer Systeme, wieso die traditionell der „reinen Mathematik“ zugeordnete Zahlentheorie sehr wohl auch für die „reale Welt“ von Bedeutung ist. Gleichfalls Fragen aus der Dynamik sind Thema des letzten Artikels (14), der mit einer sehr lesenswerten Bemerkung schließt, die gegen eine Unterscheidung zwischen „nützlicher“ und „nutzloser“ Mathematik Stellung nimmt und die Wichtigkeit innermathematischer Querverbindungen hervorhebt. Der mit 30 Seiten längste Beitrag des Bandes ist (10), eine hervorragende Einführung in die mathematischen Grundlagen der Strömungsmechanik samt Vektoranalysis. Neben den bisher erwähnten Aspekten der Mathematik gibt es zahlreiche andere, die sich teilweise leider nicht so leicht in einer populären „Einladung in die Mathematik“ darstellen lassen, etwa die Bildung abstrakter Begriffe. In diese Richtung kann dennoch Abschnitt 4 des Beitrags (12) empfohlen werden, wo der anspruchsvolle spieltheoretische Begriff einer Strategie bei kontinuierlicher Zeit thematisiert wird.
Insgesamt besteht ein besonderer Vorzug dieses Bandes in der Vereinigung von Einzelbeiträgen, die, jeder für sich, in relativ kurzer Zeit genossen und recht leicht verdaut werden können. Für die Qualität der einzelnen Beiträge bürgen alleine die Namen der Autoren.
Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, Oktober 2017, Band 64, S. 237–239
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags
Rezension: Reinhard Winkler (TU Wien)