Stellungnahme der Deutschen Mathematiker-Vereinigung (August 1994)

Wolfgang Dalitz, Martin Grötschel, Joachim Lügger und Wolfram Sperber
Konrad-Zuse-Zentrum für Informationstechnik (ZIB)

Kurzfassung eines Projektplans der DMV, erschienen im Rundbrief 'Numerische Software' der gemeinsamen Fachgruppe der Gesellschaften DMV, GAMM und GI, No. 8, August 1994, pp. 3-5.

Die Kombination von elektronischer Fachinformation mit den neuen Mitteln der Kommunikation eröffnet neue Perspektiven für die Mathematik in Deutschland. Aufbauend auf das laufende, BMFT-geförderte Projekt "Fachinformation'' der Deutschen Mathematiker-Vereinigung (DMV) plant die DMV eine Querschnittsaktivität für die Mathematik. Diese soll nicht nur die mathematischen Fachbereiche und Forschungsinstitute einbeziehen, sondern als Partner auch mathematische Forschungslabors aus der Industrie und die Informationsversorger der Mathematik, insbesondere die wissenschaftlichen Verlage, die TIB-Hannover, die Bibliotheken der Universitäten und - nicht zuletzt - das FIZ Karlsruhe mit dem Zentralblatt für Mathematik.

Wissenschaftlich-Technische Zielsetzung

Auf der technischen Grundlage des Internet und seiner weltweit verbreiteten Informationsdienste (Gopher, WAIS, World Wide Web, Hyper-G, ftp und E-mail) soll ein verteiltes, mathematisches Informationssystem geschaffen werden, bei dem die Partner des gemeinsamen Vorhabens ihre örtlichen Ressourcen untereinander und zugleich weltweit verfügbar machen. Die Öffnung des Informationssystems im Internet ermöglicht zusätzlich die Nutzung der umfangreichen, bereits im Internet vorhandenen und zumeist kostenfrei bzw. kostengünstig verfügbaren elektronischen Fachinformation für die Mathematik.

Als Aktivitäten - mit Focus auf mathematische Fachinformation - sind folgende Teilaufgaben und Pilotvorhaben bei allen Partnern geplant:

Einrichtung von elektronischen Informationsstationen (Server & Clients)
Verteiltes elektronisches Angebot von Preprints und Skripten (Volltexte)
Verteiltes elektronisches Angebot von Software- und Datensammlungen
Zugriff auf globale Informationssysteme in der Mathematik
Schaffung einer Organisationsform für elektronisches Reviewing
Schaffung eines organisatorischen Rahmens für elektronische mathematische Journale
Elektronisches Angebot von eingescannten historischen Dokumenten und Büchern
Organisation eines Lebenden Mathematischen Museums
Zugriff auf elektronische Kataloge von Bibliotheken
Erprobung von Verfahren zur elektronischen Lieferung von Dokumenten
Elektronische Projektorganisation

Der Zugriff auf diese Informationen - einschließlich aller Volltexte - soll kostenfrei von jeder Workstation aller Partner bzw. von allen Workstations im Internet möglich sein. Diese Ziele sind durch konsequenten Einsatz von Software erreichbar, die nach dem Client-Server-Modell strukturiert und die im Internet verbreitet bzw. anerkannt ist.

Organisatorische Maßnahmen

Die Bereitstellung von Technik reicht keineswegs aus. Ohne die Schaffung einer personellen, organisatorischen und technischen Infrastruktur ist die Durchführung eines solchen Projekts nicht möglich. Zentrale Konzepte der Informationsversorgung sollen dabei durch dezentrale ergänzt werden. Als Maßnahmen sind - für alle Partner - geplant:

Schaffung der Funktion des Informationsbeauftragten
Einrichtung eines gemeinsamen Forums für mathematische Information
Errichtung und Betreuung von mathematischen Informationsstationen
Teilnahme an nationalen und internationalen Standardisierungsmaßnahmen
Workshops und regelmäßige Schulungen, Öffentlichkeitsarbeit

Dabei sollen die guten Traditionen aus dem aktuellen DMV-Projekt fortgesetzt werden. Das Forum für mathematische Information besteht aus der Versammlung der Informationsbeauftragten, der zentralen Projektleitung und einem wissenschaftlich-technischen Ausschuß. Ihm ist eine wissenschaftlich-technische Arbeitsgruppe zugeordnet.

Teilaufgaben und Pilotvorhaben

Als Aktivitäten - mit Focus auf mathematische Fachinformation - sind geplant:

Teilaufgabe "Elektronische Informationsstationen": Aufbau und Betrieb von Informationsstationen (eine je Partner) und Clients (auf allen Workstations) bei den Partnern auf der Basis der im Internet verbreiteten Informationsdienste.
Wirkung: Errichtung einer technischen Infrastruktur für Informationsdienste der Partner; effizientere Informationsvermittlung auch für Fachgruppen der DMV; transparente Darstellung von Leistungs- und Serviceangeboten.

Teilaufgabe "Verteilte Preprints": Bereitstellung von Volltexten (Reports, Bücher und Skripte) zum Zeitpunkt der Fertigstellung in den Instituten. Das Zentralblatt integriert die Abstracts in die Datenbank MATH und erstellt ggf. Referate. Wirkung: Beschleunigung des Referatewesens, Kostendämpfung; Verbesserung der Lehrangebote, Steigerung der Transparenz für Studenten, Studienzeitverkürzung.

Teilaufgabe "Verteilte Software- und Datensammlungen": Bereitstellung des nationalen und internationalen (eLib, NetLib,Reduce Network Library,...) Angebots. Wirkung: Erschließung Mathematischer Software für die Mathematik und für andere Fachgebiete (Naturwissenschaften, Ingenieurwissenschaften, etc.).

Teilaufgabe "Informationssysteme in der Mathematik": Zusammenstellung mathematischer Informationssysteme - weltweit - in einem Hypertext-Dokument, das online per Maus-Click anwählbar ist (auch WAIS-Index zu externen Systemen). Wirkung: Öffnung in Richtung auf europäische und nordamerikanische Regionen.

Pilotvorhaben "Elektronische Referate": Aufbau eines Mailverteilers und einer elektronischen Referate-Organisation für das "Zentralblatt für Mathematik'". Wirkung: Kostendämpfung, Beschleunigung des Referatewesens.

Pilotvorhaben "Elektronische mathematische Journale": Entwicklung eines qualitativ hochwertigen, exportierbaren Modells für das elektronische Angebot mathematischer Journale. Wirkung: Modellhafte Erprobung neuer Publikations- und Vertriebskonzepte.

Pilotvorhaben "Historische Dokumente und Bücher": Einscannen und Bereitstellung wertvoller mathematischer Literatur aus der Schatzkammer der Bibliotheken. Wirkung: Kostengünstige Reprints, Erprobung neuer Vertriebswege.

*   Pilotvorhaben: "Lebendes Mathematisches Museum": Aufbau einer Kernorganisation (in Deutschland) eines elektronischen ("virtuellen") Mathematischen Museums und Ausweitung des Konzepts auf andere Länder. Wirkung: Kostengünstige "Errichtung'' des ersten Mathematischen Museums (mit Abteilungen für Alte Mathematik, Moderne Mathematik und Mathematische Didaktik) und damit Einrichtung einer weltweiten Expositionsfläche für alte und moderne Ideen aus dem mathematischen Kosmos.

Pilotvorhaben: "Zugriff auf elektronische Kataloge von Bibliotheken": Anschluß der Kataloge von ausgewählten Fachbibliotheken und zentralen Bibliotheken an das Internet. Installation von Clients bei allen Partnern für den Zugriff auf diese Kataloge. Wirkung: Nachweis von Artikeln und Büchern (incl. Standorte) auch für traditionelle Fachinformation (auf Papier). Steigerung der Transparenz für Lehrende und Lernende auch durch tiefere, inhaltliche Erschließung von Fachinformation.

Pilotvorhaben: "Elektronische Dokumentenlieferung": Elektronische Auslieferung von (auch eingescannten) Artikeln (durch ausgewählte Partner), die bisher nur im Rahmen des traditionellen Publikationswesens angeboten wurden. Wirkung: Elektronische Bezugsmöglichkeit auch älterer, mathematischer Literatur; Rationalisierung, Kostendämpfung.

Teilaufgabe "Elektronische Projektorganisation": Elektronischer Verbund der Partner. Wirkung: Effizienter und informeller Nachrichtenaustausch.

Das Vorhaben zielt ab auf die Schaffung einer informationstechnischen Infrastruktur für Datenbank-Retrieval, E-mail, Conferencing und fachspezifische Informationsnetze. Der Schwerpunkt liegt auf der Mathematik in Deutschland, der allgemeine Rahmen ist jedoch weiter gesteckt. Das Projekt ist offen gegenüber Diskussion, Koordination und Kooperation mit Partnern in anderen Wissenschaftsbereichen, in der Industrie bzw. in anderen Ländern. Wir hoffen, daß dieses Projekt als Beispiel für die Entwicklung anderer Modelle elektronischer Information und Kommunikation dienen kann. Darüber hinaus soll das Projekt den Beitrag der deutschen Mathematik zum weltweiten "give and take'' in der Gemeinschaft des Internets verbessern helfen.

Status

Das Projekt wurde erstmals im Dezember 1993 auf einer Tagung über "Die Zukunft elektronischer Fachinformation insbesondere in der Mathematik'' in Berlin vorgestellt und auf breiter Basis im Kreis der Fachinformationsbeauftragten der Mathematik diskutiert. Das erste Konzept fand anschließend - in einer vorläufigen Fassung - in elektronischer Form (E-mail) weite Verbreitung unter Mathematikern, Physikern und Informatikern sowie bei Bibliotheken und Verlagen.

Die Projektplanungen wurden inzwischen dem Präsidium der DMV und der Konferenz der Mathematischen Fachbereiche vorgestellt, wo sie einhellige Billigung fanden. Bis zum Jahresende 1994 soll ein entsprechender Projektantrag vorbereitet und dem BMFT als Vorschlag zur Förderung vorgelegt werden.

Das Projekt soll in der Jahresmitte 1995 beginnen und über zunächst drei Jahre laufen. Die Ergebnisse des Projekts (insbesondere das Verteilte Informationssystem für die Mathematik) sollen über die Laufzeit des Projekts hinaus Bestand haben.

Die fachliche Gesamtverantwortung für die Projektplanungen liegt bei dem derzeitigen Vorsitzenden der DMV, Prof.Dr.M.Grötschel

Für die elektronische Diskussion ist ein Mailverteiler eingerichtet, an dem sich alle an der Thematik des verteilten Informationssystem Interessierten beteiligen können, der von Dr.Sperber moderiert wird.

Eine vollständige Beschreibung des Projektplans der DMV Neue Perspektiven eines Verteilten Informationssystems für die Mathematik ist im Rundbrief der GAMM; Sept. 1994; pp. 8-26, veröffentlicht.