Stellungnahme der Deutschen Mathematiker-Vereinigung (Frühjahr 1983)
Die elektronische Datenverarbeitung ist in Wirtschaft, Verwaltung und vielen Wissenschaften zu einem unentbehrlichen Hilfsmittel geworden; den Auswirkungen auf das tägliche Leben kann sich kaum noch jemand entziehen. Aus diesem Grunde wurden entsprechende Inhalte vielfach auch in den Schulunterricht übernommen.
Die in den letzten Jahrzehnten entstandene elektronische Datenverarbeitung hat ihre Wurzeln außer in der Elektrotechnik vorwiegend in der Mathematik, besonders der mathematischen Logik, der diskreten Mathematik (Theorie der Algorithmen) und der Informationstheorie. Heute werden die physikalischen Grundlagen in der Elektrotechnik, die formalen in der Mathematik bzw. dem daraus entstandenen Gebiet der Informatik behandelt.
Die theoretische Informatik ist daher eng mit der Mathematik verflochten und bedient sich in weiten Teilen der in der Mathematik entwickelten Methodik. Als Beispiele für die Gebiete, die Mathematik und Informatik verbinden, seien Logik, Kombinatorik, Komplexitätstheorie und Numerik genannt. Auf Grund dieser Tatsachen spielen bei der Informatikausbildung an den Universitäten weite Teile der Mathematik eine wesentliche Rolle.
Gegenwärtige Situation an Gymnasien
Seit einigen Jahren gibt es Versuche, Informatikunterricht auch an den Gymnasien durchzuführen. Umfang und Art dieses Unterrichts sind je nach Bundesland sehr verschieden. In der Regel bildet ein Programmierkus im Differenzierungsbereich der Mittelstufe den Ausgangspunkt. In der Oberstufe werden dann mehr theoretische Überlegungen angeschlossen.
Der Informatikunterricht wird jetzt vorwiegend von engagierten Mathematiklehrern durchgeführt, die selbst Freude am Arbeiten mit Computern haben und in dieser Arbeit den Schülern eine starke Motivation zu übermitteln vermögen; eine auf einem Computer gelöste Aufgabe vermittelt ein unmittelbares Erfolgserlebnis. Die Herstellung eines Programms zwingt aber auch zur Präzision und kann zu einer disziplinierten Lösung eines Problems erziehen. Man darf allerdings nicht verkennen, daß die Arbeit am Computer auch gewisse Gefahren mit sich bringt, denn die Erfolgserlebnisse können zu einer "Programmiersucht" führen, die einige Schüler erfaßt, während andere ganz unbeteiligt bleiben.
Im Jahr l98 hat die Kultusministerkonferenz "Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung" für das Fach Informatik beschlossen. Die darin für die Grundkurse festgelegten Anforderungen haben erhebliche Ähnlichkeit mit Anforderungen des Grundstudiums für einen Diplom-lnformatiker an einer Universität. Man muß fragen, ob hier nicht Spezialkenntnisse vermittelt werden sollen, die, wie die Informatik selbst, einem sehr raschen Wandel unterworfen sind und deshalb wohl nur bedingt der Allgemeinbildung eines Abiturienten dienen.
Besondere Probleme des Informatikunterrichts an Gymnasien sehen wir
in der schnellen Einführung einer sehr jungen, in rascher Veränderung begriffenen Disziplin in den Katalog allgemeinbildender Fächer des Gymnasiums,
in der Diskrepanz zwischen den Möglichkeiten eines Grundkurses und den "einheitlichen Prüfungsanforderungen",
in der Gefahr, daß anstelle von relevanten Problemen und der Entwicklung von Lösungsmethoden der Computer als Selbstzweck in den Mittelpunkt des Unterrichts rückt.
Vorschläge
Wir wollen hier aus der Sicht der Mathematik aufzeigen, wie wesentliche Inhalte der Informatik in organischer Weise in den Unterricht eingeführt werden können.
Gegenstand des Unterrichts in der Oberstufe kann die Behandlung von Daten mannigfacher Art sein. Probleme entstehen dabei durch Daten von großem Umfang oder durch eine Vielzahl von Alternativen. Das erfordert die Entwicklung von systematischen Arbeitsmethoden, von Algorithmen. Ist dies gelungen und ein Lösungsweg erarbeitet, kann man ihn schließlich in ein Programm für einen Rechner umsetzen und damit Beispiele ausführen.
Das Hauptgewicht jedoch muß auf der Analyse der Problemstrukur und der Entwicklung von Lösungsstrategien liegen. Diese Arbeit ist am besten im Mathematikunterricht aufgehoben. Der Computer ist ein Werkzeug für die Ausführung der Arbeit und darf nicht alleiniger Gegenstand oder Bezugspunkt des Unterrichts werden.
Um diese Unterrichtsziele besonders deutlich zu machen und um die engen Beziehungen eines solchen Unterrichts zur Mathematik aufzuzeigen, beabsichtigt die DMV eine Sammlung von Unterrichtsbeispielen zu veröffentlichen.
Ein Unterricht dieser Art kann von jedem Mathematiklehrer erteilt werden, der bereit ist, sich darauf einzustellen und sich einzuarbeiten. Auch für den Schüler ist es sehr nützlich, wenn ein solcher Unterricht in möglichst engem Zusammenhang mit dem Mathematikunterricht erteilt wird.
Die physikalischen Grundlagen für die mit dem Computer zusammenhängenden technologischen Fragen können im Physikunterricht behandelt werden. Die klare Schnittstelle zwischen Logik und Technologie beim Computer erlaubt eine deutliche Trennung der Aufgaben des Unterrichts in Mathematik und Physik in diesem Bereich.
Zusammenfassung
Die Deutsche Mathematiker-Vereinigung möchte der Hoffnung Ausdruck geben, daß, nachdem nun erste Erfahrungen im Informatikunterricht vorliegen, diejenigen Aspekte betont werden, die die Vorarbeit zur Problemlösung betreffen und den Computer als Hilfsmittel der Lösung von Problemen ansehen. Soweit derartige Inhalte in den Grundkursen des Gymnasiums behandelt werden sollen, ist es zweckmäßig und daher wünschenswert, diesen Stoff in den Mathematikunterricht zu integrieren.
Das hätte vor allem folgende Vorteile:
die mathematischen Grundlagen der Informatik sind keinem zeitlichem Wandel unterworfen und nicht abhängig von den sich rasch verändernden Technologien,
der Mathematikunterricht wird auf diese Weise ergänzt und bereichert, auch jetzt schon ist der Computer für numerische oder stochastische Fragen im Mathematikunterricht ein nützliches Werkzeug,
es wird einer weiteren Zersplitterung der gymnasialen Oberstufe entgegengewirkt,
der enge Kontakt zur Mathematik wirkt der Gefahr des Spielens auf dem Computer entgegen.
Wesentliche Voraussetzung für die Durchführbarkeit dieses Vorschlags ist die Bereitschaft genügend vieler Mathematiklehrer, hier mitzuarbeiten. Geeignete Angebote in Ausbildung und besonders Fortbildung sind dazu erforderlich. Vor allem aber müssen geeignete Unterrichtsmaterialien erarbeitet werden und ausreifen.
Professor Dr. Helmut Werner
Vorsitzender der DMV
Institut für Angewandte Mathematik der Universität
5300 Bonn