Oliver GötzeWie wird man ein „halber Mathematiker“? Zum Beispiel, indem man Geschichte und dazu Mathematik im Nebenfach studiert. So hat es Oliver Götze gemacht. Als er 1998 an die Technische Universität Berlin kam, gab es diese Kombination offiziell gar nicht. Daher studierte er Mathematik nach einer persönlich auf ihn zugeschnittenen Studienordnung. Heute ist Oliver Götze als stellvertretender Direktor im Museum für Kommunikation Berlin für Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich, er arbeitet Wirtschaftspläne aus und organisiert Ausstellungen und ist dabei doch immer Mathematiker geblieben – von ganzem Herzen. (Foto: MSPT/Michael Ehrhart)

Herr Götze, wie kam es dazu, dass Sie ein „halber Mathematiker“ geworden sind?

Als ich mich entschieden hatte, Wissenschafts- und Technikgeschichte an der TU Berlin zu studieren, empfahl mir der Vater einer Freundin, im Nebenfach doch noch ein „richtiges“ Fach zu studieren, eines, das mir ein Fundament verschafft. Da war Mathematik meine erste Wahl. Während des Grundstudiums habe ich sogar kurz überlegt, komplett auf Mathematik umzuschwenken. Ich fand das Fach wegen seiner Struktur sehr anziehend.

Wie meinen Sie das?

Wer sich in den späten neunziger Jahren, also vor der Bologna-Reform, für ein geisteswissenschaftliches Studium entschied, konnte mit den Lehrveranstaltungen durchaus Pech haben. Endlose Diskussionen über abstruse Thesen, ausufernde Referate zu unpassenden Themen und Dozenten, die dem kaum Einhalt geboten. Da bot die Mathematik mit ihrer klaren Struktur große Vorteile. Zudem hat mir der Umgang zwischen den Studenten und den Lehrenden gut gefallen. Die Stimmung war viel freundlicher, aber zugleich stärker leistungsorientiert als im Fach Geschichte. Nach und nach habe ich freilich auch dort die Kurse gefunden, die mich zugleich begeistert wie auch gefordert haben.

Den Mathe-Dozenten galten Sie nicht als „halber Mathematiker“?

Nein. Sie wussten nicht, dass ich Mathe nur im Nebenfach studierte oder haben dies erst in der Abschlussprüfung erfahren. Ich war ja der einzige Student an der TU Berlin mit dieser Kombination. Daher gab es auch keine Studienordnung, sondern lediglich einen Brief des Prüfungsvorsitzenden des Fachbereichs Mathematik an meinen Studienleiter, in dem die Kurse aufgeführt waren, die ich absolvieren musste. So hörte ich ganz regulär Lineare Algebra und Analysis, schrieb die entsprechenden Klausuren und legte darin auch meine Prüfungen ab. Im Hauptstudium habe ich mich dann auf Topologie und Differentialgeometrie spezialisiert. Eine schwere Materie, doch unglaublich faszinierend und schön. Ohnehin hat Mathematik für mich sehr viel mit Schönheit zu tun.

Sind Sie nach dem Abschluss direkt ans Museum gekommen?

Ich habe schon seit der Wiedereröffnung des Museums im Jahr 2000 als Student Besucher geführt, Workshops geleitet und immer mal wieder kleine Konzepte geschrieben. Mit dieser Arbeit habe ich mein Studium und meine Promotion finanziert. Danach habe ich die übliche Laufbahn gewählt und mich für ein Volontariat beworben.

Seit 2013 sind Sie für den Bereich Öffentlichkeitsarbeit im Museum für Kommunikation Berlin verantwortlich.

Ja, nach dem wissenschaftlichen Volontariat war ich zunächst Assistent der Direktorin beziehungsweise des Stiftungsvorstandes und habe dann die Stelle des Abteilungsleiters Öffentlichkeit übernommen. Damit bin ich heute für alle Bereiche verantwortlich, die das Haus in seiner Außenwirkung betreffen: Presse, Museumspädagogik, Bibliothek, Ausstellungen und Veranstaltungen.

Ich vermute, Sie sind der einzige Mathematiker im Haus.

Ja, der Museumsbetrieb ist von Geisteswissenschaftlern, aber auch Quereinsteigern geprägt. Als Mathematiker bin ich ein Exot. Das merken Kollegen an meiner Arbeitsweise: Ich strukturiere meine Aufgaben, Haushaltspläne und Analysen etwa, ganz anders als jemand mit einer rein geisteswissenschaftlichen Ausbildung.

Gibt es auch inhaltlich Berührungspunkte mit der Mathematik?

Dann und wann. Zum Beispiel in unserer Ausstellung In 80 Dingen um die Welt vor etwa zwei Jahren. Hier war es mir als Mathematiker sehr wichtig, zu zeigen, dass der Wandel des Weltbildes im 19. Jahrhundert nicht nur auf die von Telegrafie, Eisenbahn und Dampfschifffahrt hervorgerufene Globalisierung zurückzuführen ist, sondern zu einem kleinen Teil auch auf die Ausformulierung der nichteuklidischen Geometrie. Stärker sind die Berührungspunkte in unserer aktuellen Ausstellung Göttlich, golden, genial. Weltformel Goldener Schnitt?, die noch bis zum 26. Februar 2017 läuft. Der Goldene Schnitt ist als irrationale Proportion bereits ein mathematisches Phänomen: Bei einer im Goldenen Schnitt geteilten Strecke verhält sich der kurze zum längeren Abschnitt wie der längere Abschnitt zur Gesamtstrecke. Wir finden ihn in der Mathematik in Fünfecken, Fraktalen, regulären und semiregulären Polytopen.

Was hat eine Ausstellung zum Goldenen Schnitt im Museum für Kommunikation zu suchen?

Diese Frage wird uns öfter gestellt. Der Goldene Schnitt als Maß ist nicht nur für Mathematiker faszinierend, sondern wird seit gut einem Jahrhundert in der Architektur, auf Plakaten, in der Musik, im Produktdesign und sogar beim Zahnarzt angewendet. Es geht für uns also um die Frage: Warum spricht diese Proportion stärker zu den Betrachtern als andere? Gibt es vielleicht sogar eine unbewusste, angeborene Vorliebe für den Goldenen Schnitt? Und dies sind eben Fragen der Kommunikation.

Wie haben Sie diese Fragen beantwortet?

Das war ein grandioser Lernprozess für uns. Wir sind gestartet mit dem Ziel, eine Ausstellung zum Goldenen Schnitt und dessen Relevanz in allen Lebensbereichen zu kuratieren. Eine Studie der Universität Parma legte nahe, dass Schönheit wahrnehmende Gehirnregionen besonders beim Betrachten solcher antiker Statuen aktiviert werden, die den Goldenen Schnitt aufweisen. Damit sollte bewiesen sein, dass es auf physiologischer Ebene eine Vorliebe gibt, dass der Goldene Schnitt in der Natur verankert ist. Wir haben jedoch bald gelernt, diese Aussagen skeptisch zu beurteilen. Schließlich lassen sich neben dem Goldenen Schnitt auch andere beliebige Proportionen finden – in häufig zitierten Kunstwerken ebenso wie in Bauwerken oder Naturphänomenen. Wir haben sehr viel diskutiert und sind am Ende zu dem Schluss gekommen – und den zeigt die Ausstellung auch –, dass die Behauptung, der Goldene Schnitt sei ein jahrhundertealtes, von der Natur vorgegebenes Schönheitsmaß nicht ohne Weiteres haltbar ist.

Der Goldene Schnitt ist also keine Weltformel, sondern nur ein Konstrukt?

Ja, und zwar ein Konstrukt des 19. Jahrhunderts mit einer schier unglaublichen Wirkmacht. Allerdings zerstören wir den Mythos in der Ausstellung nicht, sondern regen lediglich an, die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Denn möglich, wenn auch noch nicht bewiesen, ist eine unbewusste Vorliebe für den Goldenen Schnitt schon. Quasi als Gegenpol zeigen wir in der Ausstellung auch, welche anderen Proportionen unsere Sehgewohnheiten heute prägen: das DIN-Format, das japanische Tatami-Format, das Euro-Paletten-Format und die Bildschirmformate. Nur sehr selten machen wir uns bewusst, wie stark unsere Sicht auf die Welt von Industrienormen abhängig ist.

Würden Sie jemandem, der sich für den Bereich Kultur und Technik interessiert, ebenfalls raten, neben einem geisteswissenschaftlichen Fach auch noch Mathematik zu studieren?

Ja, unbedingt. Ich bin dem Vater der Freundin, der mir das empfohlen hatte, bis jetzt dankbar. Heutzutage kann ich natürlich nicht mehr alles im Mathestudium Erlernte ohne Nachschlagen anwenden. Aber ich weiß, dass man sich Räume so modellieren kann, wie sie benötigt werden; ich habe keine Scheu vor mehrdimensionalen Anschauungen. Dieses Wissen erleichtert den Umgang mit Problemen enorm. Ich würde sogar sagen, dass Mathematik ein Studium fürs Leben ist – selbst im Nebenfach.

Sie meinen, mathematisches Denken ermutigt dazu, Dinge selbst zu gestalten?

Ja, man lernt, Probleme einzuschätzen und sie zu visualisieren, um sie zu verstehen. Diese Schulung des Vorstellungsvermögens und das Wissen, welche Anschauungen angewendet werden können, um Probleme zu minimieren oder zu optimieren, das ist großartig. Vom Mathematik-Studium ist mir eine Art Gewissheit geblieben, dass vieles möglich ist, auch wenn ich die Lösung noch nicht kenne. Das lässt sich in sehr vielen Situationen anwenden. Ich habe jetzt einen Management-Job mit einem unglaublich breiten Gebiet. Das mathematische Denken hilft mir dabei, das zu überblicken.

Kristina Vaillant ist freie Journalistin in Berlin und arbeitet regelmäßig für das Medienbüro der Deutschen Mathematiker-Vereinigung.