dmvm-2017-0055.png

Mehrwert schaffen – das ist es, was Bernhard Beyer als Mathematiker erreichen will. Bei der BWM Group in München, wo er seit fast zwei Jahren arbeitet, kann das bedeuten, dass es gelingt, die elektronische Kommunikationsarchitektur für Fahrzeuge so zu gestalten, dass ein Kabel eingespart werden kann. Bei über zwei Millionen produzierten Autos jährlich kann das den Ressourcenverbrauch entscheidend senken. Mehrwert und Nutzen zu erzeugen, ist das, was ihn antreibt.

Herr Beyer, Sie sind als Entwicklungsingenieur im Bereich Elektrik/Elektronik der BMW Group beschäftigt. Was machen Sie dort?
Aktuell bin ich verantwortlich für die Entwicklung eines IT-Tools. Ein Tool, das wir brauchen, um die Kommunikation der Elektronik-Komponenten im Fahrzeug effizienter zu gestalten.

Was heißt das genau?
In den Fahrzeugen der BMW Group, vom Mini über einen BMW bis hin zum Rolls-Royce, sind mittlerweile über 100 Elektronik-Komponenten verbaut. Die sind an verschiedenen Stellen im Fahrzeug verteilt und für verschiedene Funktionen verantwortlich. Damit zum Beispiel die Klimaanlage oder der Bremsassistent funktionieren, müssen die Komponenten untereinander kommunizieren. Zu Beginn haben wir den Sensor, etwa ein Radar. Dieses verarbeitet Messwerte, sendet diese Informationen über das Onboard-Kommunikationsnetz an einen Empfänger. Dort werden die Informationen erneut verarbeitet und vielleicht an eine weitere Elektronik-Komponente geleitet. Erst dann erfolgt eine physische Reaktion.

Der Bremsassistent erkennt also beispielsweise über das Radar ein Hindernis und löst die Bremse aus.
Ja, dafür müssen die Komponenten untereinander Informationen austauschen und das zum Teil über verschiedene Kommunikationstechnologien. Ich arbeite an der Stelle, an der es darum geht, von einer Kommunikationstechnologie in die andere zu übersetzen.

Das heißt, Sie vernetzen verschiedene Strukturen im Fahrzeug so miteinander, dass sie untereinander kommunizieren können.
Ja, und das ist auch eine Stelle, an der man mit mathematischen Methoden viel erreichen kann.

Inwiefern?
Es gibt verschiedene Aspekte. Beispielsweise gibt es Fälle, in denen man klassisch mathematisch beweist, dass Dinge funktionieren. Zum Beispiel der Bremsassistent. Wenn man nicht nachweisen kann, dass die Ansteuerung der Bremse durch das Radar wirklich immer funktioniert und dies auch schnell genug passiert, dann wird sich eine Versicherung möglicherweise fragen, ob sie die Haftung übernehmen kann. Das heißt, man muss nachweisen, dass das Gesamtsystem so ausgelegt ist, dass alles funktioniert. Bei über 100 Elektronik-Komponenten gibt es sehr viel Interaktion. Mathematisch ist das ein Optimierungsproblem, denn man muss ein oberes Limit berechnen, beispielsweise, wie lange es maximal dauern darf, bis die Bremse reagiert. Im Ergebnis erreiche ich eine Sicherheit, die nicht nur finanziell einen Mehrwert darstellt. Und wenn ich diese Sicherheit garantieren kann, aber feststelle, dass ich noch Spielraum habe, dann kann ich vielleicht meine Ressourcen noch effizienter nutzen. Also etwa mehr Kommunikation unterbringen, oder vielleicht sogar ein Kabel einsparen.

Macht ein Kabel weniger so viel aus?
Ja, nicht nur weil jedes Kabel etwas kostet, es wiegt auch ein bisschen und geht gegebenenfalls durch das ganze Auto. Da kommen übers Jahr ein paar Kilo Kupfer zusammen. Ein Kabel weniger im Fahrzeug spart Platz, Gewicht und damit auch CO2.

Sie sind Mathematiker und arbeiten in der Elektronikentwicklung. Studiert haben Sie aber Finanz- und Wirtschaftsmathematik an der TU München. Wie sind Sie zur Automobilbranche gekommen?
Die Möglichkeiten und Denkweisen der Finanzmathematik sind etwas, das mich bis heute fasziniert, allerdings habe ich nach dem sechsten Semester festgestellt, dass ich nicht mein Leben lang in der Finanz- oder Versicherungsbranche arbeiten will. Wechseln war im Diplomstudium nicht so ohne Weiteres möglich, also habe ich es zu Ende gebracht und gleichzeitig geschaut, was besser zu mir passt. Eine gewisse Technikaffinität hatte ich schon immer. Und dann hatte ich das Glück, für meine Diplomarbeit am Fachbereich Elektrotechnik unterzukommen. Ich habe mich mit WLAN-Netzen beschäftigt und fand es extrem spannend zu sehen, wie man mit den Mitteln der Mathematik Erkenntnisse erzeugen kann, wo die eigentlichen Spezialisten an ihre Grenzen stoßen. Hier hat Mathematik einen Mehrwert geschaffen, der für das Fachgebiet selbst nicht ohne Weiteres greifbar war.

Mithilfe von Modellierung?
Entscheidend war eine geschickte Modellierung und darauf aufbauende Optimierung, also das Anwenden des Handwerks, das einem im Mathestudium im technischen Bereich beigebracht wird. Über meine Diplomarbeit hatte ich einen Einstieg in das Thema Kommunikation, gleichzeitig habe ich Kontakte geknüpft und durch die bin ich nach meinem Studium zur ESG Elektroniksystem- und Logistik-GmbH gekommen. Das ist ein mittelständisches Unternehmen, das Dienstleistung und Beratung anbietet, unter anderem im Bereich Onboard-Kommunikation.

Diese Branche hat Ihnen mehr zugesagt.
Hier war ich unter lauter technikaffinen Menschen und habe mich damit sehr wohl gefühlt.

Ende 2015 sind Sie dann zu BMW gewechselt, als Doktorand.
Dahinter standen mehrere Gründe. Zum einen hatte ich Lust, mal wieder etwas Uni-Luft zu schnuppern und losgelöst vom Tagesgeschäft Ideen entwickeln zu können. Zum anderen bot die Promotion mir die Chance, ein Thema, das mich schon länger beschäftigte, in seiner vollen Tiefe zu durchdringen und neue Lösungsansätze auszuarbeiten, die dann direkt in der Fahrzeugentwicklung hätten verwendet werden können. Der Praxisbezug einer Industriepromotion war für mich sehr reizvoll. Das Thema war „End-to-End Timingbewertung von Kommunikationsarchitekturen“. Ich wollte mathematisch beschreiben, wie lange es potenziell und wie lange es in der Praxis dauert: von der Messung des Sensors bis das Auto physisch reagiert. Das ist unter anderem relevant für Assistenzfunktionen wie dem bereits genannten Bremsassistenten. Die Fragestellung kommt eigentlich aus der Elektrotechnik, hat aber einen starken mathematischen Aspekt.

Die Promotion haben Sie nach etwa einem Jahr abgebrochen. Wo lag das Problem? 
Es gab verschiedene Ursachen. Beispielsweise hatte sich aufgrund der Prüfungsordnungen der Schwerpunkt in Richtung Mathematik verschoben. Dies sorgte dafür, dass ich an etwas arbeitete, das zwar einzelne Probleme lösen, aber nicht langfristig genutzt werden würde. Ursprünglich war aber genau das ein entscheidender Punkt für mich gewesen, eine Promotion in der Industrie und nicht an der Universität zu beginnen. Der Praxisbezug, zu sehen wie die eigenen Ergebnisse genutzt werden, und der Austausch mit den Entwicklern im Unternehmen, daraus hatte ich meine Motivation und Energie geschöpft. Obwohl mich Unternehmen und Lehrstuhl weiterhin unterstützten, war für mich deshalb klar, dass die Industriepromotion so nicht funktionieren kann und einfach Weitermachen niemandem hilft. Ich habe für mich daraus gelernt, dass ich meine Stärken nur dann sinnvoll einsetzen kann, wenn ich merke, dass das, was ich tue einen Mehrwert schafft und anderen weiterhilft.

Was sind für Sie die wichtigsten Unterschiede zwischen der Arbeit beim Automobil-Dienstleiter und der Arbeit bei BMW?
Beim Dienstleister ist die Arbeit häufig auf kurzfristige Projekte ausgerichtet. Normalerweise wird man für ein oder mehrere Projekte eingesetzt. Die können durchaus mehrere Jahre laufen, es kommt aber auch häufig vor, dass man schon nach wenigen Monaten für ein anderes Projekt eingesetzt wird. Gerade für einen Berufseinsteiger kann das sehr interessant sein, man lernt viele verschiedene Bereiche kennen. Für mich war der entscheidende Grund, nach der Promotion nicht wieder zum Dienstleister zu gehen, dass ich für meine Projekte langfristig Verantwortung übernehmen wollte.

Arbeiten Sie bei BMW mit anderen Mathematikern zusammen?
Bei mir in der Gruppe „Zentrale Kommunikation“ arbeiten außer mir keine weiteren Mathematiker. Hier sind hauptsächlich Informatiker, einige Elektrotechniker und erstaunlich viele Physiker. Allerdings habe ich bisher in diversen Entwicklungsabteilungen Mathematiker kennengelernt, beispielsweise in einer Nachbarabteilung, wo die Kommunikation einzelner Elektronik-Komponenten entwickelt wird. Die wenigsten haben aber bei ihrer Arbeit einen Mathematik-Schwerpunkt. Sie nutzen das, was sie im Mathematikstudium gelernt haben: Strukturen erkennen und wissen, wie man innerhalb dieser Strukturen agieren kann.

Wie sieht Ihr Arbeitsalltag aus, mit welchen Tätigkeiten verbringen Sie die meiste Zeit?
Weil ich bei der Entwicklung des IT-Tools Product Owner bin – so nennt man in der Softwareentwicklung nach dem Vorgehensmodell SCRUM die Person, die verantwortlich für die fachlichen Fähigkeiten der Software ist – ist meine Hauptaufgabe eigentlich das Vermitteln. Das heißt, ich spreche mit Mitgliedern meines Teams oder mit den Abteilungen, die die Kommunikation zwischen den Komponenten entwickeln, darüber, welche Übersetzungsleistungen sie genau benötigen. Ich sammle also deren Anforderungen, bereite diese so auf, dass mein Entwicklungsteam sie im Tool umsetzen kann und bespreche das Ergebnis dann erneut mit den Anforderern. Man muss sehr kommunikationsfreudig sein. Aber auch Abstraktionsvermögen ist gefordert und dazu Präzision im Detail – das lernt man im Mathestudium und das hilft einem immer wieder.

Welche Art von Tätigkeiten mögen Sie besonders? Ist es eher der Austausch mit Ihren Kollegen oder das Brüten über einem kniffligen Problem vor dem Computer?
Es ist die Mischung, die mir gefällt. Besonders viel Spaß habe ich, wenn sich ein technisches Problem ergibt, das von vielen unterschiedlichen Faktoren abhängt und bei dem nicht klar ist, ob es überhaupt lösbar ist. Wenn ich die technischen Eigenheiten kenne, dann macht es mir Freude herauszuarbeiten, wie der Lösungsraum aussieht, und die Vor- und Nachteile der verschiedenen Lösungsmöglichkeiten zu diskutieren. Die Lösbarkeit eines Problems unter gewissen Prämissen zu beurteilen ist ein Thema, bei dem die Mathematik ihre Stärken ausspielen kann. Und daran habe ich Spaß.

Wie können sich Studenten oder Absolventen auf eine Tätigkeit im Bereich Automobil und Elektronik vorbereiten?
Wenn man Mathematik im Hauptfach studiert, ist ein passendes Nebenfach natürlich hilfreich – etwa Physik oder Elektrotechnik. Einige Universitäten bieten auch spezialisierte Studiengänge mit Technik-Fokus an. Ein gutes Technik-Verständnis ist auf jeden Fall sehr wichtig. Praktika oder Abschlussarbeiten in Unternehmen sind dann eine gute Möglichkeit, einen konkreten Bereich kennenzulernen. Was auch geht und womit ich gute Erfahrung gemacht habe, ist, auf Jobmessen mit kleineren Firmen zu sprechen, um herauszufinden, wo man mit dem Mathematikstudium einsetzbar ist. Für mich war der Berufseinstieg über ein mittelständisches Dienstleistungsunternehmen ideal, weil ich dort in mehreren Projekten verschiedenste Aspekte der Elektronikentwicklung kennenlernen konnte und mir klar wurde, wo ich meine Stärken am besten einsetzen kann. Die Automobilbranche ist vielfältig, es gibt zahlreiche Spezialisten und viele, oft weniger bekannte, aber teils sehr innovative Firmen.

Was bedeutet Mathematik für Sie? Ist es einfach Wissen, das Sie mehr oder weniger oft bei der Arbeit anwenden oder steckt mehr dahinter?
Für mich ist Passion in diesem Zusammenhang der richtige Begriff. Ich habe unheimlich Spaß an Mathematik, aber es ist nicht das Einzige, was ich in meinem Beruf haben will. In meiner täglichen Arbeit ist es eher die Ausnahme, dass ich konkret mathematisch arbeiten darf. Aber wenn mir so etwas auf den Tisch kommt, dann habe ich unglaublich Spaß daran. Das sind immer kleine Highlights.

Kristina Vaillant ist freie Journalistin in Berlin und arbeitet regelmäßig für das Medienbüro der Deutschen Mathematiker-Vereinigung. Foto: Christoph Eyrich