Sebastian Telsemeyer ITSneakers, kurze Hosen, T-Shirt – so lässig ist die Arbeitskleidung von Sebastian Telsemeyer. Der Mathematiker ist beim Internet-Start-up Foodora beschäftigt, das 2014 in München gegründet wurde. Als Business Analyst ist er mitverantwortlich dafür, dass die knapp 5000 Fahrradkuriere in 32 Großstädten weltweit mit dem Burger, der vietnamesischen Suppe oder den koreanischen Teigtaschen vom Restaurant bis zur Haustür niemals länger als zehn Minuten unterwegs sind – so das Versprechen des Lieferdienstes.

Herr Telsemeyer, wussten Sie schon in der Schule, dass Sie einmal Mathematiker werden würden? Es war naheliegend. Mathematik fiel mir im Vergleich zu allen anderen Fächern sehr leicht. Und dann hat mich mein Lehrer überredet, Mathematik als Leistungskurs zu wählen. Danach war es nur konsequent, noch das Studium dranzuhängen. Ich habe an der TU Berlin im Bachelor Wirtschaftsmathematik studiert, bin aber im Master in den Studiengang Mathematik gewechselt, allerdings immer noch mit Schwerpunkt Angewandte Mathematik.

Nach ihrem Abschluss haben Sie aber keines der klassischen Berufsfelder, Bank oder Versicherung, gewählt. Normalerweise wird man als Mathestudent, der eher der Wirtschaft als der Wissenschaft zugeneigt ist, automatisch an diese beiden Berufsfelder herangeführt: durch die Kommilitonen und auch die Vorlesungen, die oft sehr finanz und versicherungsmathematisch ausgerichtet sind. Aber je näher der Abschluss rückte, desto deutlicher merkte ich, dass das nichts für mich ist. Ich habe nach Auswegen gesucht und mich informiert. Wegen der vielen Start-ups, die es in Berlin gibt, bin ich an einen Job als Werkstudent bei Food Express gekommen, einem Internet-Start-up, das 2015 in Insolvenz gegangen ist.

Seit März 2016 sind Sie als Business Analyst bei Foodora tätig, einem Start-up-Unternehmen, das Kunden weltweit mit fertig zubereiteten Gerichten aus den Küchen lokaler Restaurants beliefert. Sie wollen also lieber einem Start-up zu Profit verhelfen als einer Bank? Ja, genau. Das hört sich vielleicht komisch an, zumal gerade Start-ups durch Großinvestoren finanziert werden, die am Ende nichts anderes als unternehmerische Banken sind. Aber hier arbeite ich an einem Produkt mit, das den Menschen den Alltag verschönert. Die Leute haben die Wahl, ob sie etwas kochen möchten, ins Restaurant gehen oder sich eben ihr Essen liefern lassen.

Internet-Start-ups schreiben nach der Gründung über Jahre rote Zahlen. Wie tragen Sie dazu bei, dass das Geschäft profitabel wird? Beispielsweise lotsen wir Kunden zu den Restaurants, die ihnen am nächsten liegen. Wir vermeiden, dass im Wedding, im Nordwesten Berlins, Produkte aus Kreuzberg im Südosten der Stadt geordert werden. Dafür programmieren wir eine Art Vorsortierung. Das ist eine der Möglichkeiten. Dann wollen wir natürlich Aufträge zusammenfassen. Bei der Post ist das kein Problem. Die schickt einen Fahrer mit 100 Paketen los. Das ist in der Instant-Logistik schwieriger, weil die Lieferzeiten viel kürzer sind. Aber man will möglichst einen Fahrer mit zwei Essensbestellungen losschicken.

Das funktioniert? Das kann funktionieren. Und wenn man das zumindest bei einem Teil der Lieferungen erreicht, dann kann das den Umsatz schnell verdoppeln – ein entscheidender Wettbewerbsvorteil.

Wie hilft die Mathematik dabei? Die Mathematik kommt ins Spiel, wenn der Algorithmus den am besten geeigneten Fahrer ermittelt. Wenn etwa ein Kunde eine Asia-Pfanne bestellt und wir dem Kunden sagen, der Fahrer ist in x Minuten bei dir, dann sollte der Fahrer ausgewählt werden, der einen kurzen Weg zum Kunden hat und so schnell ist, dass das erreicht wird, was man dem Kunden versprochen hat. Das heißt, wir optimieren unter diesen Nebenbedingungen und versuchen, die beste Kombination zu finden.

Welche Software-Instrumente nutzen Sie dafür? Meine Weapon of Choice, so sagt man das hier, wenn man Software beschreibt, ist die von Statistikern erfundene Programmiersprache R. Mithilfe dieser Sprache kann man sich mit allen Schnittstellen verbinden, mit Datenbanken oder auch mit bestehender Software. Damit entwickele ich dann Algorithmen, die versuchen, Probleme mit statistischen Mitteln einzufangen.

Was wäre ein solches Problem? Nehmen wir an, wir haben eine Lieferzeit, und die hängt von bestimmten Gegebenheiten ab. Wenn es zum Beispiel regnet, dauert die Fahrt länger, auch Verkehrsaufkommen und Uhrzeit spielen eine Rolle. Um hier zu optimieren, macht man eine lineare Regression. Das ist mathematisch nicht sehr aufwendig. Man schaut sich den Zusammenhang zwischen Lieferzeit und Input-Variablen wie Wetter, Uhrzeit und so weiter an und versucht dann, herauszubekommen, an welchen Stellen noch etwas verbessert werden kann. Brauchen wir zum Beispiel bei schlechtem Wetter mehr Fahrer, weil die Lieferzeiten länger werden? Oder brauchen wir weniger, weil im Sommer erfahrungsgemäß weniger geordert wird?

Das heißt, Sie analysieren zurückliegende Ereignisse und generieren daraus Prognosen. Genau. Ganz oft ist das eine empirische Analyse. Man könnte sagen, wir sichern das Unternehmen gegen externe Einflüsse wie das Wetter ab. Viele dieser Entscheidungen sind, wie man das bei Start-ups nennt, Data-Driven-Decisions. Man stellt ein Modell auf, das stetig läuft, Zahlen ausspuckt, und trifft auf Grundlage dieser Zahlen dann Entscheidungen.

An welchen Stellen lässt sich mit diesen Algorithmen die Effizienz weiter steigern? Zum Beispiel, indem man sie dynamisiert. Für den Fall, dass es regnet, könnte man beispielsweise schon im Vorfeld algorithmisch Initiativen ergreifen, die dazu führen, dass das Tagesgeschäft besser läuft: indem Liefergebiete der Wetterlage angepasst werden, die Fahrtstrecken also kürzer werden. Die Kunden werden in ihrem Bestellverhalten beeinflusst, um das Tagesgeschäft trotz Unwetter oder Sommerloch effizient zu gestalten. Am Ende zählt aber vor allem das Wachstum. Darauf setzen alle Start-ups in diesem Bereich. Denn bei ein paar Millionen Bestellungen im Monat reichte es schon, wenn man mit jeder Order einen Cent-Betrag Gewinn machen würde. Das heißt, der Algorithmus, den wir heute benutzen, sollte möglichst auch bei 20-mal so vielen Ordern gut funktionieren, damit wir nicht 20-mal so viele Software Entwickler und Server brauchen.

Welche mathematischen Werkzeuge nutzen Sie? Im Prinzip den ganzen Werkzeugkasten der diskreten Mathematik: Graphentheorie, Kombinatorik, algorithmische diskrete Mathematik. Auch genetische Algorithmen spielen eine Rolle. Bei diesen Algorithmen überträgt man die Dynamik einer Populationsentwicklung auf das Geschäftsmodell und schaut, ob sich bestimmte „Mutatio nen“ gut auf das Geschäft auswirken oder schlecht. Deshalb der Begriff genetisch.

Die Steuerung der Logistik ist in hohem Maße automatisiert. Welche Gefahren birgt das? Man muss gehörig aufpassen, dass man der Automatisierung nicht die gesamte Gewalt gibt. Daten können lügen, deshalb sollten die Zahlen ständig hinterfragt werden. Hinter Ausreißern stecken manchmal simple Zufälle. Wenn einer unserer Fahrradlieferanten besonders langsam war, dann hat in der Berlin vielleicht der Marathon stattgefunden und viele Straßen waren gesperrt. Man kann mathematisch nicht alles abbilden. Außerdem besteht immer die Gefahr, dass sich Fehler einschleichen, wenn die Datenmenge groß wird.

Was gefällt Ihnen an der Arbeit bei einem Internet-Start-up? Sich von Tag zu Tag so durchzuhangeln mit Blick auf die Zahlen, das ist ein Nervenkitzel, den ich mag. Wenn man Echtzeit-Logistik macht, kann schon ein Stromausfall geschäftsschädigend sein. So ein Start-up ist also fast so angreifbar wie ein Krankenhaus. Diese Spannung finde ich reizvoll. Mir gefällt außerdem, dass wir viele Probleme mit einfachen statistischen Mitteln lösen können. Die Lieferzeiten betrachten wir von drei, vier Variablen her, obwohl es eigentlich mindestens zwanzig gibt. Wir brauchen hier nicht um die Fields-Medaille zu kämpfen, wir arbeiten mit Mathematik, die seit über 100 Jahren angewendet wird. Es reizt mich, solche praxistauglichen Lösungen zu finden.

Hat das Mathe-Studium Sie auf diesen Beruf vorbereitet? Was die Mathematik angeht schon, aber auf das Arbeitsleben war ich überhaupt nicht vorbereitet. Ich hatte kaum Erfahrung mit Teamarbeit. Das habe ich erst hier gelernt. Ich arbeite in einem achtköpfigen Team, darunter ein Mathematiker, und wir sind gemeinsam für das Tagesgeschäft und strategische Aufgaben der Logistik verantwortlich. Morgens treffen wir uns als erstes für ein kurzes Meeting. Wir sprechen in ein paar Minuten durch, was wir bereits erreicht haben, was für den Tag und die Woche geplant ist. Gerade als Business Analyst habe ich aber auch mit den anderen Abteilungen viel zu tun: mit dem Marketing, dem Verkauf und dem Team, das für das Front-End verantwortlich ist, die Oberfläche, die die Kunden auf ihren Smartphones sehen. Ich habe hier gelernt, wie wichtig es ist, anzuerkennen, dass nicht jeder ein Mathematiker oder Betriebswirtschaftler ist. Anstatt mit Definitionen aus der Algebra-Vorlesung zu kommen, lasse ich mich auf andere Fachgebiete ein, und ich habe gemerkt, dass da sehr gute Synergien entstehen. Es gibt einige Probleme, die sich in einem gemischten Team viel besser lösen lassen als mit zehn Mathematikern.

Inwieweit ist Mathematik für Sie nicht nur Beruf, sondern auch Berufung? Ich genieße es, dass die meisten Leute mich als Mathematiker ernst nehmen. Vielleicht werden Mathematiker sogar überschätzt, und vielleicht sind die Erwartungen an die Mathematik zu hoch. Aber auf jeden Fall kann ich, wenn ich ein Problem gelöst habe, sagen: Das kann man, unter den Grundannahmen, die ich festgelegt habe, kaum besser machen. Das ist bewiesenermaßen so, und alle anderen Möglichkeiten sind weniger gut. Auch wenn Lieferungen immer zu spät kommen, Fahrer immer krank werden, auch wenn wir irgendwo immer das Rauschen der Welt, immer eine Abweichung haben – am Ende ist dieses Modell das beste. Dafür gibt es einen Beweis. Auf diesem Fundament stehe ich und insofern ist Mathematik für mich Berufung.

Wie können sich Mathematik-Studierende vorbereiten, wenn Sie sich für die Start-up-Branche interessieren? Ich kann jedem nur raten, schon als Werkstudent aktiv zu werden. Das war jedenfalls für mich der Schlüssel. Man hat die Chance, etwas auszuprobieren, kann erst mal irgendwo anfangen, und selbst wenn es einem nach einem halben Jahr nicht mehr gefällt, nimmt einem das keiner übel. Danach ist man auf jeden Fall schlauer. Die Unternehmen haben auch etwas davon, denn Werkstudenten sind günstige, gut qualifizierte Arbeitskräfte. Foodora und auch andere Start-ups stellen laufend Werkstudenten ein. Hier in Berlin gibt es bei diesen Unternehmen viele Möglichkeiten für junge Mathematiker. Auch in den kommen den Jahren.

Kristina Vaillant ist freie Journalistin in Berlin und arbeitet regelmä ßig für das Medienbüro der Deutschen Mathematiker-Vereinigung.