Helena Mihaljević und Lucía Santamaría

Die meisten Menschen sind nicht überrascht zu hören, dass der Anteil von Frauen unter Mathematikern geringer ausfällt als 50%. Dass sich diese Zahl nach unten bewegt, je weiter wir die akademische Karriereleiter hinaufschauen, gilt ebenfalls als bekannt. Die "gläserne Decke" wird spätestens beim Mathematikstudium durch die dominierende Präsenz männlicher Professoren auch empirisch bestätigt.

Eine Professur ist bekanntlich schwer zu bekommen. Der Weg dorthin erfordert nicht nur fachliche Exzellenz, sondern häufig auch hohe Flexibilität und Bereitschaft zu Kompromissen im privaten Bereich, beispielsweise bei der Wohnortwahl, den Arbeitszeiten, oder der Familienplanung. Wer es dennoch schaffen will, beugt sich oft dem hohen Publikationsdruck nach dem Prinzip "publish or perish": Die eigene Forschung muss in möglichst vielen Fachartikeln präsentiert werden. Für die Karriere ist jedoch nicht allein die Zahl der Publikationen entscheidend; Auch die Wahl der Fachzeitschrift, die beteiligten Koautoren und wie viele andere Autoren sich auf die eigene Veröffentlichung beziehen — man spricht von Zitationen — spielen eine wichtige Rolle bei dem Versuch, die Qualität und Relevanz der Forschung zu quantifizieren.

Forschungsarbeiten inklusive ihrer bibliographischen Daten bestimmen maßgeblich den beruflichen Erfolg in der Wissenschaft. Um die Geschlechterlücke zu verstehen, muss man also fragen: Publiziert ein Forscher anders als eine Forscherin? Im Rahmen des internationalen und interdisziplinären Projekts "Gender Gap in Science: How to measure it, how to reduce it?" untersuchen wir deshalb verschiedene Fragestellungen rund um wissenschaftliches Publizieren: Veröffentlichen Frauen ihre Arbeit in Zeitschriften mit einem ähnlich guten Renommee wie Männer? Forschen Frauen in anderen Gebieten als ihre männlichen Kollegen? Ist ihr Netzwerk aus Koautorinnen ähnlich groß? Sind stabile, positive Entwicklungen sichtbar?

Akademisches Publizieren: eine datenbasierte Analyse

Unsere Vorgehensweise basiert auf Analysen, die wir bereits vor ein paar Jahren als Redakteurinnen beim Zentralblatt MATH begonnen hatten. Basierend auf der zbMATH Datenbank, einem der umfassendsten Repositories für Fachpublikationen in der Mathematik, untersuchten wir ähnliche Fragestellungen mithilfe von über zwei Millionen Artikeln aus den letzten vier Jahrzehnten. Wir zeigten beispielsweise, dass — verglichen mit Männern — Frauen häufiger schon am Anfang ihrer Karriere die mathematische Forschung verlassen; dass sie weniger Artikel als alleinige Autorinnen publizieren, während ihre Koautoren-Netzwerke ähnlich groß sind. Auch publizieren sie seltener in Zeitschriften mit hohem Renommee. Im aktuellen Projekt werden wir ähnlichen Fragestellungen in weiteren Fachgebieten nachgehen, darunter Theoretische Physik und Astronomie. Darüber hinaus werden wir die geographische Lage der Wissenschaftler als weitere Facette in die Analysen mit einbeziehen. Damit wollen wir unter anderem untersuchen, wie international die Kollaborationen von Männern und Frauen sind, und wie sehr das Publizieren in einzelnen Zeitschriften vom Arbeitsort der Autoren abhängig ist.

Fig7Abbildung 1: Anteil von Autorschaften von Frauen in Inventiones Mathematicae, Annals of Mathematics, und Journal of the American Mathematical Society. Die dunkelgrüne Kurve zeigt den Anteil von Frauen (die grün-schattierte Fläche ist eine realistische Fehler-Marge).

Manche Studien suggerieren, dass die Behebung der Geschlechterlücke lediglich eine Frage der Zeit ist. In sozialen Medien aber auch bei Konferenz-Dinnern oder in persönlichen Gesprächen mit Kolleginnen wird nicht selten die These formuliert, dass Frauen ihre männlichen Kolleginnen "sicher bald einholen werden". Studien wie unsere wären damit quasi obsolet, alle müssten nur etwas Geduld zeigen.

Dem widersprechen die Daten. Während in einigen Disziplinen, Regionen und Karriere-Ebenen durchaus positive Trends sichtbar sind, gibt es zahlreiche Ergebnisse, die eine Stagnation auf niedrigem Niveau oder gar einen Rückschritt in der Diversifizierung der Disziplinen darstellen. Unsere Analysen der zbMATH-Daten hatten beispielsweise gezeigt, dass der Anteil an Autorschaften von Frauen in drei Zeitschriften mit sehr hohem Renommee seit Jahrzehnten auf dem niedrigen Niveau von zirka 5% stagniert (siehe Abb. 1). Während der Anteil von Frauen unter PhD-Absolventen an europäischen Hochschulen in Mathematik und Statistik von 31% im Jahr 2004 auf 35% im Jahr 2012 anstieg, zeigen einige Staaten einen negativen Trend. Beispiel Deutschland: Zählten wir 2004 hierzulande noch 28%, waren 2012 nur noch 25% der Absolventen dieser Fächer weiblich (siehe PDF, p. 32f).

Förderung der Partizipation von Frauen in wissenschaftlichen Foren: der Fall des International Congress of Mathematicians

Dass die Partizipation von Frauen kein Selbstläufer sein muss, zeigen auch die Zahlen zu den eingeladenen Vortragenden bei dem International Congress of Mathematicians (ICM). Der seit über 121 Jahren stattfindende Kongress ist die größte internationale Konferenz der Disziplin. Eine Einladung dort vorzutragen wird oft gleichgesetzt mit dem Eintritt in die "Hall of Fame" der Mathematik.

Zum Anlass des jüngsten ICM 2018 haben wir eine Analyse aller Vortragenden seit dem ersten Kongress von 1897 durchgeführt. Ein Aspekt ist hierbei besonders bemerkenswert: Der Anteil beziehungsweise die Anzahl an Frauen unter den eingeladenen Vortragenden war im Jahr 1932 genauso hoch wie zirka sechzig Jahre später. Erst in den 1990ern stieg er wieder an. Davor gab es trotz geeigneter weiblicher Kandidatinnen oft keine einzige Frau unter den "Invited Speakers". Stagnation und die Einbrüche haben viele Gründe; die beiden Weltkriege, gesellschaftspolitische Umbrüche, ökonomische Krisen oder die Rückkehr zu alten Geschlechterrollen nach dem zweiten Weltkrieg haben eine wichtige Rolle auch für die Mathematik-Gemeinschaft gespielt.

Die positive Entwicklung seit den 1990er Jahren ist jedoch vor allem dem Engagement der Frauen in diesem Fach geschuldet, die sich seit den 70er Jahren organisiert haben. Bei zahlreichen ICMs wiesen sie darauf hin, dass Frauen systematisch ausgeschlossen worden seien.

percentage women speakers total numbers insideAbbildung 2: Repräsentation von Frauen als Vortragende bei ICMs. Die Höhe der Balken entspricht dem Anteil, und die Zahlen in den Balken der Gesamtanzahl von eingeladenen Frauen.

Ein interdisziplinäres und internationales Projekt zur globalen Untersuchung der Geschlechterlücke

Um die Geschlechterlücke im MINT-Bereich besser zu verstehen, seine Ursachen und Ausprägungen zu benennen sowie Strategien zu dessen Überwindung zu erarbeiten, ist eine solide und umfassende Datenbasis sowie der Einsatz verschiedener Methoden notwendig. Deshalb freuen wir uns besonders, dass neben unseren statistischen Datenanalysen eine umfassende Umfrage durchgeführt wird, welche sich an Studierende sowie Berufstätige in und außerhalb der akademischen Einrichtungen in der Mathematik, Naturwissenschaften sowie Informatik in allen Ländern richtet. Wir laden alle herzlich dazu ein, an der Umfrage bis Ende Oktober 2018 teilzunehmen.

Der hohen Bedeutung der frühen Bildung wird im Projekt ebenfalls Sorge getragen, indem eine Sammlung von existierenden vorbildhaften Maßnahmen und Handlungsempfehlungen aufgebaut wird, welche sich an Mädchen und junge Frauen und ihre Familien richtet, sowie an Institutionen, welche Karrieren junger Frauen in den jeweiligen Disziplinen fördern.

Das Projekt Gender Gap in Science wird vom International Science Council (ISC) bis Ende 2019 gefördert und bezieht elf wissenschaftliche Verbände und MINT-bezogene Organisationen ein. Forschungsergebnisse, Meilensteine sowie wichtige Updates des Projektes werden regelmäßig auf der Projekt-Website präsentiert. Ende des nächsten Jahres findet zusätzlich eine Abschluss-Präsentation am International Center for Theoretical Physics (ICTP) in Triest statt.

Die Autorinnen

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Die Mathematikerin Helena Mihaljević ist seit 2018 Professorin an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin. Als Expertin für Data Science gehen ihr die Analysen der gigantischen Publikationsdatensätze vergleichsweise leicht von der Hand. Die große Herausforderung sieht sie in deren gesellschaftlicher Botschaft.

 

LuciaSantamariaDie Physikerin Lucía Santamaría promovierte an der Universität Potsdam über Quellen von Gravitationswellen für die LIGO Detektoren. Die Datenwissenschaftlerin beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit aller Art von Daten jenseits der Astrophysik und publiziert Fachartikel zu Gender-Themen sowie zu maschineller Sprachverarbeitung.

Die Autorinnen sind Koordinatorinnen im Projekt "Gender Gap in Science".

Fotos: privat

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