Alexander Grothendiecks 1500-seitiges Spätwerk Récoltes et Semailles ist (nach mehr als 35 Jahren) vor einigen Wochen bei Gallimard erschienen. In dem Buch geht es neben vielen philosophischen und das Überleben der Menschheit betreffenden Fragen auch um Mathematik und Mathematiker. Grothendieck, der zweifellos einer der einflußreichsten Mathematiker des vergangenen Jahrhunderts war, beschreibt seinen Weg als Mathematiker und beklagt sich darüber, dass Studenten und Kollegen seine Arbeit nicht fortgeführt, sondern mathematische Probleme auf andere Weise gelöst hätten. Zum Verständnis hilft es vielleicht, Teile der Korrespondenz Grothendieck-Serre zu lesen. Die letzten Briefe dieser Korrespondenz datieren von 1986/87 und Serre schreibt dort (meine Übersetzung)

Irgendwo beschreibst Du Deinen Zugang zur Mathematik, bei dem man ein Problem nicht frontal angeht, sondern es in eine sanft ansteigende Flut (“Rising Tide”) allgemeiner Theorien einhüllt und so aufweicht. Sehr gut: Das ist Deine Arbeitsweise, und was Du getan hast, beweist, dass es tatsächlich funktioniert. Für topologische Vektorräume oder algebraische Geometrie zumindest . . . Es ist nicht so offensichtlich für die Zahlentheorie (bei der die beteiligten Strukturen alles andere als offensichtlich sind – oder vielmehr, bei der alle möglichen Strukturen involviert sind); Ich habe den gleichen Vorbehalt für die Theorie der Modulformen, die sichtbar reicher ist als ihr einfacher „Lie-Gruppen“-Aspekt oder ihr „algebraische Geometrie – Modulschemata“-Aspekt. Deshalb diese Frage: Hast Du in Wirklichkeit nicht zwischen 1968 und 1970 festgestellt, dass die „Rising Tide“-Methode gegen diese Art von Fragen machtlos war und dass ein anderer Stil erforderlich gewesen wäre – den Du nicht mochtest?

Die Veröffentlichung von “Récoltes et Semailles” war der Anlaß für eine Sendung von France Culture diesen Donnerstag (hier nachzuhören) mit Laurent Lafforgue und zwei weiteren Mathematikern (Olivia Caramello und Alain Connes). Neben Grothendieck und “Récoltes et Semailles” war auch die Topos-Theorie Thema dieser Sendung. In der Topos-Theorie geht es grob gesagt darum, den Begriff des topologischen Raumes durch einen allgemeineren kategorientheoretischen Begriff zu ersetzen. Laurent Lafforgue war seit 2000 einer von sechs Professoren am Institut des Hautes Études Scientifiques, dem wohl wichtigsten französischen Forschungsinstitut für Mathematik und Theoretische Physik, 2002 erhielt er die Fields-Medaille für seinen Beweis der Langlands-Korrespondenz im Funktionenkörper-Fall. In den Jahren danach engagierte er sich für eine konservativere Schulpolitik (war auch kurzzeitig Mitglied im Haut conseil de l'éducation) und ausweislich seiner Webseite dann seit 2013 auch für eine “rationale und rigorose” Analyse des Ukraine-Konflikts. Daneben hat er in den letzten zwanzig Jahren auch noch einige mathematische Arbeiten geschrieben, die aber keine nennenswerte Rezeption erhielten. Seine letzte, 2019 erschienene Arbeit mit Olivia Caramello benutzt den Rahmen der Topos-Theorie zur Konstruktion “topologischer Galois-Theorien”, d.h. topos-theoretischer Verallgemeinerungen der klassischen Korrespondenz zwischen Körpererweiterungen und abgeschlossenen Untergruppen der Galois-Gruppe. Seit 2019 wurde sein Lehrstuhl von Huawei gesponsort, 2021 verließ er das IHÉS, um ganz bei Huawei Technologies France zu arbeiten. In den letzten zehn Minuten der Radiosendung vom Donnerstag geht es um eine “Feindseligkeit” der Mathematiker gegenüber der Topos-Theorie. Caramello meint, dass viele Spezialisten Angst davor hätten, dass Probleme ihrer Spezialitäten mit fremden Methoden gelöst werden könnten. (Sie spricht von Ostrazismus.) Ein Mathematiker hätte nach einem ihrer Vorträge mehrere Stunden nach einem Gegenbeispiel gesucht, weil er ihre Verallgemeinerung eines bekannten Satzes nicht hatte glauben wollen. Auch Lafforgue spricht von einer sehr großen Feindseligkeit gegenüber seinen Arbeiten zur Topos-Theorie. Dagegen habe er zu seiner größten Überraschung bei den Ingenieuren von Huawei sehr viel offenere Ohren gefunden. Dort bei den Verantwortlichen der Forschungsabteilung von Huawei glaube man daran, dass die Topos-Theorie für die Entwicklung einer künstlichen Intelligenz wesentlich werden könnte.

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