Mathematik als Studienbereich und Studienfach
Die Studierendenzahlen der Mathematik werden in einem halbjährlichen Turnus vom Statistischen Bundesamt (Destatis) erhoben. Der Studierendenstatistik wird hierbei eine Fächergruppensystematik zugrunde gelegt, gemäß der die einzelnen Studiengänge übergeordneten Studienfächern zugeordnet werden. Diese werden wiederum in Studienbereiche zusammengefasst. Der Studienbereich Mathematik unterteilt sich in die drei Studienfächer Mathematik, Technomathematik und Wirtschaftsmathematik, wobei die Studierenden der Mathematik den mit Abstand größten Anteil einnehmen. Die erfassten Studierenden im Studienfach Mathematik sind sowohl die „klassischen“ Mathematikstudierenden als auch die Lehramtsstudierenden mit Mathematik als erstem Studienfach. Wenn im Lehramtsstudium zwei Fächer gleichwertig studiert werden, obliegt es der Hochschule, welches sie als erstes Studienfach an das Statistische Bundesamt meldet. Wegen der großen fachlichen Nähe wird in der untenstehenden Übersicht das Studienfach Statistik hinzugenommen, welches bis zu einer Revision der Fächerzuordnung im Wintersemester 2020/2021 ebenfalls dem Studienbereich Mathematik zugerechnet wurde.
Im Hinblick auf die Beliebtheit des ersten Studienfachs in Deutschland nimmt die Mathematik im Ranking von Destatis den 14. Platz ein. Damit liegt die Mathematik zwar noch vor Naturwissenschaften wie Biologie, Physik und Chemie, aber deutlich hinter den sehr beliebten Studienfächern aus den Bereichen Wirtschaft, Ingenieurwesen, Rechtswissenschaften, Informatik, Psychologie und Medizin.
Entwicklung der Studierendenzahlen
Die Anzahl der Mathematikstudierenden bleibt seit einigen Jahren relativ konstant und unterliegt nur geringfügigen Schwankungen. Einen größeren Anstieg der Studierendenzahl gab es vor allem bis zu den Jahren 2012/2013. Dies hängt jedoch mit dem fast kontinuierlichen Anstieg der Gesamtzahl der Studierenden aller Studiengänge zusammen und ist nicht mathematikspezifisch. Laut der Bundeszentrale für politische Bildung hat sich die Studierendenzahl allein zwischen den 1950er und den 1980er Jahren verzehnfacht. Bis 2013 kam es zu einer erneuten Verdoppelung auf über 2,6 Million Studierende. Gründe für diesen rasanten Anstieg sind in der zunehmenden Attraktivität einer akademischen Ausbildung als auch in der Ausweitung der Zugangsmöglichkeiten zum Studium zu sehen. Während in den 1950er Jahren nur ein Fünftel der Studierenden weiblich war, ist es mittlerweile rund die Hälfte.[3]
Die Studierendenzahlen im Studienbereich Mathematik haben sich seit der Wende gemäß dem allgemeinen Anstieg der Studierendenzahlen verdoppelt. Zwischen den Jahren 2000 und 2010 stieg die Zahl der Studierenden im STB Mathematik um 60%. Zwischen den Jahren 2010 und 2017 stieg die Studierendenzahl etwas moderater um 16%, bevor sie bis 2020 einen Rückgang um 8% verzeichnete. Dies hat neben demographischen Gründen auch mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie zu tun, welche bei vielen Studienanfänger*innen aufgrund des ersten virtuellen Hochschulsemesters im Sommersemester 2020 zu Verunsicherungen geführt hat. Ob dieser Rückgang der Studierendenzahlen einem allgemeinen Trend folgt, lässt sich noch nicht mit Sicherheit sagen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass sich die Zahlen mit der Rückkehr zum Präsenzformat (meist ab 2021) zumindest teilweise wieder dem vorpandemischen Niveau annähern.[6]
In Anbetracht der zunehmenden Bedeutung von Mathematik als Schlüsseltechnologie wäre es jedoch im Interesse der Bundesrepublik, wenn die Anzahl der Studierenden entsprechend dem wachsenden Bedarf an Absolventen und Absolventinnen deutlich zunehmen würde. Deutschland hat zwar im OECD-Vergleich mit 39% die höchste Quote an Studienanfänger*innen im MINT-Bereich[7], aber als eine der führenden Nationen im Bereich Forschung und Entwicklung kann Deutschlands Bedarf mit der derzeitigen Quote dennoch nicht gedeckt werden.
Frauenanteil der Mathematikstudierenden
Betrachtet man die Studierendenzahlen im Hinblick auf die Geschlechterverteilung, fällt als positive Entwicklung zuerst einmal auf, dass der Frauenanteil in der Studierendenschaft mittlerweile um die 47% beträgt. Dies ist eine erfreuliche Entwicklung, insofern als Frauen auf dem mathematischen Arbeitsmarkt traditionell oft noch unterrepräsentiert sind. Allerdings scheint sich der Unterschied in der Anzahl der männlichen und weiblichen Studierenden eher wieder etwas vergrößert zu haben, nachdem er sich in den Jahren zwischen 2005 und 2010 schon einmal sehr stark angenähert hatte. Der Anteil der Professorinnen betrug im Fachbereich Mathematik im Jahr 2019 jedoch weiterhin nur 21%.[8] Dies ist zwar eine Steigerung von 4% seit dem Jahr 2010 [9], aber dennoch kein zufriedenstellendes Ergebnis.
Wirft man einen Blick auf die Studierenden der Mathematik nach Abschlussart, fällt zudem auf, dass im Masterstudium Mathematik der Frauenanteil nur rund ein Drittel beträgt. Unter den Studierenden des Lehramtsfachs Mathematik beträgt der Anteil der Frauen hingegen zwei Drittel.[11] Einige Frauen „landen” also gemäß Statistik im Studienbereich Mathematik, stehen der Forschung, Entwicklung und Wirtschaft später jedoch nicht zur Verfügung, da sie als Lehrkräfte tätig sein werden. Dieser Eindruck wird bei einem Blick auf die Statistik der Promovierenden bestätigt. Von 572 abgeschlossenen Promotionen im Jahr 2020 waren mit 140 Frauen nur ein Viertel aller Promovenden weiblich.[12]
Ein Blick auf die Absolventenzahlen
Ein Blick auf die Absolventenzahlen hingegen zeigt größere Schwankungen als die Zahl der Studierenden (Abb. 5), da die Studierendenstatistik mehrere Jahrgänge enthält und dadurch diese Schwankungen ausgeglichen werden. Beim Bachelorabschluss fand bis zum Jahr 2015 und beim Masterabschluss bis zum Jahr 2019 ein starker Anstieg der Absolventenzahlen statt. Dies liegt in der Umstellung des Diploms auf das Bachelor-Master-System begründet, welche im Zuge des Bologna-Prozesses stattfand. Gleichermaßen kam es natürlich zu einer steten Verringerung der Absolventen mit dem universitären Abschluss Diplom (oder vergleichbar). Unabhängig von dieser Umstellung, lässt sich jedoch auch ein gewisser Rückgang der Gesamtzahl an Absolventen und Absolventinnen beobachten. Während in allen Prüfungsgruppen des Jahres 2015 noch 10633 Studierende einen Abschluss im Studienbereich Mathematik erlangten, waren es im Jahr 2020 nur noch 9504 und damit 11 % weniger.
Anmerkung: „Diplom“ entspricht der Prüfungsgruppe „Universitärer Abschluss.“ Die Prüfungsgruppe „Lehramt“ enthält auch Lehramt Ba und Lehramt Ma.
Lehrkräftemangel
Starke Schwankungen innerhalb weniger Jahre sind insbesondere in der Gruppe der Absolventen und Absolventinnen der Lehramtsstudiengänge zu beobachten. Die sinkende Zahl an angehenden Lehrern und Lehrerinnen in der Mathematik lässt einen immer häufiger die Schlagworte „Lehrkräftemangel“, „Bedarfsprognose“ und „Quereinsteiger“ in der Presse vernehmen. Die drei Fachgesellschaften DMV, GDM und MNU äußerten hierzu sich im November 2022 in einem Positionspapier. Die Prognose zum Lehrkräfteeinstellungsbedarf und -angebot, welche die Kultusministerkonferenz (KMK) im März 2022 veröffentlichte, verdeutlicht, dass dem Engpass vor allem im nicht-gymnasialen Bereich auch in den kommenden Jahren kaum begegnet werden kann. Diese Prognose ist eine Korrektur der ursprünglichen KMK Analyse aus dem Jahr 2021, denn der Mangel ist noch weitaus gravierender als von der KMK ursprünglich angenommen. Dies liegt vor allem darin begründet, dass der hohen Zahl an benötigten Lehrkräften nicht genügend Absolvent*innen aus den Hochschulen gegenüberstehen. Bei einer meist siebenjährigen Ausbildung zur Lehrkraft reicht eine kurzfristige Aufstockung der Ausbildungskapazitäten nicht.
In der Primarstufe ist die Situation derzeit noch sehr angespannt; es wird aber davon ausgegangen, dass es ab 2025 zu einer Trendumkehr und damit wieder zu einem Überangebot kommen wird. Solche regelmäßigen Trendwenden, welche nicht zuletzt durch Prognosen der Kultusministerien bestärkt werden, finden sich auch in den zyklischen Schwankungen der Lehramtsabsolventenzahlen in Abbildung 5 wieder.
Die anhaltende Lücke besteht vor allem im Sekundarbereich I. Ursprünglich berechnete das KMK bis zum Jahr 2030 ein jährliches Defizit von 580 ausgebildeten Lehrkräften. Diese Zahl wurde mittlerweile massiv nach oben korrigiert auf 2180 Lehrkräfte pro Jahr. Besonders schwierig gestaltet sich die Situation auch an den Berufsschulen, wo bis 2035 der Einstellungsbedarf nur zu 62,3% gedeckt werden kann, und im sonderpädagogischen Bereich, wo jährlich 900 Lehrkräfte fehlen. [14] Der Mangel zeigt sich in der Sekundarstufe I vor allem im MINT-Bereich: Bis zum genannten Schuljahr werden zudem aufgrund von Pensionierungen nur noch 64% der heutigen MINT-Lehrkräfte unterrichten, insbesondere im nicht-gymnasialen Bereich. [15]
Die notwendige, massive Korrektur ihrer ursprünglichen Zahlen durch die Kultusministerkonferenz wirft die Frage auf, wie verlässlich diese Prognosen letztendlich sind. Der Bildungsforscher Klaus Klemm analysiert regelmäßig den Lehrkräftemangel und stellte fest, dass die KMK die Bedarfszahlen um ein Vielfaches zu niedrig berechnet, insbesondere, wenn man die geplanten Bildungsreformen miteinberechnet, wie den Rechtsanspruch auf Inklusion auf Grundlage der UN-Konvention oder den Anspruch auf ganztägige Betreuung von Grundschulkindern ab dem Schuljahr 2026/27:[16]
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Der Lehrereinstellungsbedarf bis zum Jahr 2035 unter Berücksichtigung der Reformen wird von Klemm mit 533.000 Lehrkräften beziffert, während das KMK nur einen Bedarf von 501.000 neuen Lehrkräften sieht. Allein für die drei Maßnahmen Inklusion, Ganztagsangebot an Grundschulen und einer Förderung an `Brennpunktschulen‘ muss mit einem Zusatzbedarf von 73.000 Lehrkräften gerechnet werden.
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Während die KMK bis zum Jahr 2035 von 478.000 neuen ausgebildeten Lehrkräften ausgeht, berechnet Klemm das Neuangebot mit nur 374.000 Personen und damit mit 100.000 Lehrkräften weniger.
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Stellt man die Angebotswerte den Bedarfswerten gegenüber, so ergibt sich für die KMK ein Lehrkräftemangel von 24.000. Klemm berechnet für eine Variante ohne Reformen einen Mangel von 85.000 Lehrkräften und für eine Variante mit den durchzuführenden Reformen einen Mangel von 158.000 Lehrkräften.
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Im MINT-Bereich wird das Ausmaß des Mangels laut Klemm dramatisch sein: Eine beispielhafte Analyse für Nordrhein-Westfalen, welche auf die anderen Länder übertragbar ist, hat ergeben, dass bereits 2030 nur für ein Drittel der zu besetzenden Stellen im MINT-Lehrbereich auch ausgebildete Lehrkräfte zur Verfügung stehen werden.
Die in den Modellrechnungen der Kultusministerkonferenz unterstellten Annahmen zum Neuangebot ausgebildeter Lehrkräfte sind im hohen Ausmaß unseriös. Sie sind durch die neuere Entwicklung bei den Zahlen der Lehramtsstudierenden ebenso wenig gedeckt wie durch die Zahl der Studienberechtigten, die in den nächsten Jahren die Schulen verlassen werden. (Klaus Klemm [17])
Laut Aussagen des Deutschen Schulportals müssen aufgrund des Mangels an ausgebildeten Lehrkräften vor allem die ostdeutschen Bundesländer seit Jahren verstärkt auf Quereinsteiger*innen setzen. Im Jahr 2020 waren in Berlin um die 40% der Neueinstellungen Quereinsteiger*innen, in Brandenburg waren es 34% und in Mecklenburg-Vorpommern immer noch 30% der Neueinstellungen.[18] In der Mathematik ist dies mit 9% seltener der Fall als in Physik (17%) oder auch Chemie (15%). Dennoch liegt der Anteil an fachfremdem Unterricht, welche durch Lehrkräfte ohne die spezifische Lehrbefähigung für Mathematik stattfindet, mit 12% über dem Wert von 9%. Dieser Umstand ist vor allem im nicht-gymnasialen Schulbereich der Fall und führt auch nachweislich zu signifikant schlechteren Ergebnissen der betreffenden nicht-gymnasialen Klassen. [19]
Mit Quereinsteiger*innen lassen sich zwar erst einmal ein paar Notstände beseitigen. Es darf aber nicht vergessen werden, dass es sich bei diesen Personen meist um keine qualifizierten Lehrkräfte handelt, die mit den teils hohen pädagogischen Herausforderungen des heutigen Schulalltags umgehen können. Dem besonderen Förderbedarf von Kindern aus bildungsfernen oder migrantischen Familien und auch Kindern mit kognitiver oder sozioökonomischer Benachteiligung kann durch Lehrkräfte ohne Lehramtsbefähigung meist nicht adäquat nachgekommen werden.
Studienabbruch
Der Übergang von der Schule zur Hochschule ist über die letzten Jahre zu einem der Kernthemen der mathematikdidaktischen Forschung geworden. Dies mag nicht zuletzt daran liegen, dass dem Mathematikstudium ein gewisser Ruf vorauseilt: Die Studienabbruchquote wird teils auf 80% gerechnet bzw. geschätzt, auch wenn es nur wenig belastbare Fakten gibt. Bisher ist es aufgrund zahlreicher fehlender Daten nicht seriös und zuverlässig möglich, die Studienabbruchquote zu berechnen, denn die beiden Fachreihen des Statistisches Bundesamtes – „Studierende an Hochschulen“ und „Prüfungen an Hochschulen“ – können aus verschiedenen Gründen nur begrenzt miteinander in Bezug gesetzt werden. Eine Erhebung von Studienverlaufsstatistiken ist bisher, auch aus Datenschutzgründen, nicht zulässig.
Einige wenige zumindest differenzierte Schätzungen stammen vom Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW). Auf Basis ihres selbst entwickelten Kohortenvergleichsverfahrens schätzen sie, dass knapp 54% der Studienanfänger*innen[20] ihr universitäres Bachelorstudium Mathematik ohne jeglichen Abschluss (egal, in welchem Fach) abbrechen; für die anderen MINT-Fächer sind die Schätzungen ähnlich. In der Abbruchquote sollen also alle ehemaligen Studierende eines Jahrgangs erfasst werden, die durch Immatrikulation ein Erststudium begannen, die Hochschule aber ohne (ersten) Abschluss verlassen haben. In dieser Definition nicht inbegriffen sind Personen, die ein Zweitstudium abbrechen oder das Studium nach einer Pause wieder aufnehmen. Die bundesweite durchschnittliche Abbruchquote über alle Fächer wird auf ca. 28 % geschätzt wird, sie liegt also deutlich unter dem MINT-Durchschnitt, beinhaltet aber auch viele NC-Fächer, deren Abbruchquoten bedeutend niedriger sind.
Was sagen diesen Zahlen nun aus? Als grobe Schätzungen sind sie nicht geeignet, Schlüsse an einzelnen Standorten zu ziehen; auch findet die Erhebung nur in unregelmäßigen Abständen statt, so dass daraus auch keine Wirksamkeit von Maßnahmen geschlossen werden kann. Ohnehin sind die Kohorten rein virtueller Natur und werden dem sich ändernden Studierverhalten junger Menschen nicht gerecht. Klar ist, dass aus der Zahl der Studierenden, insbesondere der Studienanfänger*innen, keinesfalls die Zahl der später verfügbaren Arbeitskräfte für das Tätigkeitsfeld Mathematik extrapoliert werden kann. Die Masterstudierenden der Mathematik sind da ein deutlich besserer Indikator für die später zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte. Hier wird geschätzt, dass das Masterstudium nur in circa 16 % der Fälle noch abgebrochen wird.[21] Der kritische Zeitraum findet somit in den ersten Studiensemestern statt.
Auch wenn die genaue Abbruchquote unbekannt ist, so ist man sich in den mathematischen Fakultäten und Fachbereichen dieser grundsätzlichen Problematik sehr bewusst, sodass über die letzten Jahre vielfältige Anstrengungen unternommen wurden, um der hohen Abbruchquote mit verschiedenen Maßnahmen zu begegnen. Eine besondere Herausforderung bei der Planung und Konzeptualisierung solcher Lösungsvorschläge ist die zunehmende Heterogenität der Studienanfänger*innen. Die Zahl der Abiturienten und Abiturientinnen steigt kontinuierlich an, was nicht automatisch darauf zurückführen ist, dass die deutsche Schülerschaft heute intelligenter und besser für ein Studium geeignet ist als noch in den letzten Jahrzehnten. Darüber hinaus ist das klassische, gymnasiale Abitur nicht mehr der einzige und direkte Weg ins Studium. Hochschulzugangsberechtigungen sind vielfältiger und flexibler geworden und die Bildungswege der Erstsemester sind ebenfalls deutlich heterogener. Glaesser et. al. merken in ihrer Studie zudem an, dass die Suche nach Gründen für die hohe Abbruchquote auch die Erkenntnis zu Tage gebracht hat, dass die Einflussmöglichkeiten der Hochschulen letztendlich begrenzt sind. Wenn es politisch gewollt ist, dass immer mehr Schüler*innen eine Hochschulzugangsberechtigung erhalten und die Hochschulen immer mehr Absolvent*innen hervorbringen sollen, dann müssen die Anforderungen eines Hochschulstudiums zwangsläufig sinken, wenn man die Abbruchquote senken möchte. Steigt die Zahl der Abiturient*innen immer weiter an, kann immer weniger gewährleistet werden, dass diese auch die notwendigen fachlichen und persönlichen Kompetenzen für ein Studium mitbringen. [22]
Infobox: Übergang Schule-Hochschule Die drei größten Mathematik-Fachverbände in Deutschland, die Deutsche Mathematiker- Vereinigung (DMV), die Gesellschaft für Didaktik der Mathematik (GDM) und der Deutsche Verein zur Förderung des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts (MNU) setzen sich in der „Mathematik-Kommission Übergang Schule-Hochschule“ gemeinsam für eine Verbesserung des Übergangs ein. Die Kommission bündelt die Aktivitäten und die Expertise zu aktuellen Fragen mathematischer Bildung am Übergang Schule-Hochschule. Diese Expertise kommuniziert die Kommission sowohl innerhalb der Verbände als auch nach außen und fungiert als Ansprechpartnerin für die Bildungsadministration. Ein Katalog mit 19 konkreten Maßnahmen für einen konstruktiven Übergang Schule-Hochschule findet sich hier (pdf). Mehr Information zur Kommission und ihrer Arbeit gibt es auf: http://www.mathematik-schule-hochschule.de/ |
Gegenmaßnahmen Studienabbruch
Die heterogene Studierendenschaft gemäß ihren Bedürfnissen abzuholen und erfolgsbringend durch die ersten Studiensemester zu begleiten, ist eine große Herausforderung und das Ziel zahlreicher Maßnahmen an den Hochschulen:
Infobox: Maßnahmen gegen den Studienabbruch
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In Anbetracht dieser zahlreichen Angebote stellt sich die Frage, ob diese auch zum Erfolg führen werden oder ob Studienerfolg und -abbruch kaum beeinflussbar sind, da äußere Determinanten oder nicht veränderliche Merkmale der Studierenden ausschlaggebend sind.
Eine Studie der Universität Kassel hat den Einfluss von Vorkursen auf den späteren Studienerfolg untersucht. Die untersuchte Kohorte hatte teils einen Vorkurs besucht, war zuvor entweder im Grund- oder im Leistungskurs Mathematik gewesen und musste verpflichtend einen Einstufungstest absolvieren. Die Forschenden kamen zu dem Ergebnis, dass der Besuch eines Vorkurses nur einen schwachen Einfluss auf das Ergebnis des Einstufungstests hatte und keinen Einfluss auf spätere Klausurergebnisse. Die Leistungskursteilnehmende schnitten jedoch in diesem Test als auch in späteren Klausuren signifikant besser ab als diejenigen, welche in der Oberstufe nur einen Grundkurs besucht hatten. Offenbar profitieren also vor allem diejenigen von einem Vorkurs, welche bereits aus dem Leistungskurs Mathematik vertiefte Kenntnisse mitbringen.[23] Auch wenn dies natürlich erfreulich ist, zeigt es auch, dass der Vorkurs nicht die Personen anspricht, welche die primäre Zielgruppe solcher Maßnahmen darstellen sollten.
Ein signifikanter Zusammenhang zwischen Einstiegstest und späteren Klausurergebnissen konnte für die gesamte Testkohorte festgestellt werden. Eine Studie an der DHBW in Mannheim (Derr et al., 2018) nahm ebenfalls das Vorwissen, in diesem Fall die Abiturnoten, unter die Lupe. Auch hier konnte eine starke Korrelation zwischen Vorwissen, Einstufungstest und späteren Klausurergebnissen festgestellt werden. Das Vorwissen ist also der stärkste Prädiktor für den Studienerfolg im ersten Semester.[24]
Im Hinblick auf die veränderlichen affektiven Zustände entsprachen die Ergebnisse größtenteils den Erwartungen: Je stärker sich Studierende mit dem Fach identifizieren und dieses als wichtig erachten, desto geringer das Risiko, ein Studium abzubrechen. Werden die Kosten jedoch als hoch empfunden, steigt das Abbruchrisiko natürlich an. Den größten Prädiktor für einen Studienabbruch im affektiven Bereich stellt jedoch die Angst zu scheitern dar. Diese Angst beruht häufig auf einem vermuteten oder bereits bestätigten Leistungsmangel. Darüber hinaus kommen im Bereich der affektiven Zustände noch Faktoren hinzu, welche mit dem Studieninhalt und der geforderten Leistung nichts oder nur indirekt zu tun haben. Hierzu zählen vor allem persönliche Lebensereignisse und -umstände, die sich negativ oder sogar hinderlich auf ein Studium auswirken können.[25]
Untersuchungen zeigen, dass 47% aller Studienabbrüche im MINT-Bereich bereits in den ersten beiden Semestern stattfinden.[26] Dies stellt kein Problem dar, solange es sich um Studierende handelt, die sich bezüglich ihres Studienwunsches umorientieren möchten, da sich ihre Interessen oder Berufswünsche verändert haben. Da jedoch eine Reihe anderer Gründe hinter einem Studienabbruch stehen können, gibt das Forschungsteam der SAM-Studie folgende Handlungsempfehlung:
„Gerade in Fächern mit hohen Abbruchquoten wie der Mathematik kann eine zeitlich engmaschige Begleitung der Studierenden mit Erhebung ihrer affektiven und motivationalen Zustände sowie ihrer Leistungen und (wahrgenommenen) Leistungsfähigkeit frühzeitig solche Studierende identifizieren, die im Hinblick auf einen Studienabbruch gefährdet erscheinen. Diesen können dann gezielt Beratungsangebote gemacht werden, um einen drohenden Studienabbruch abzuwenden.“[27]
Studienabbrüche liegen zwar häufig im Kontext des Studiengangs begründet und fehlende Leistung ist ein entscheidendes Problem, aber es gibt vielfältige Faktoren, welche zu dieser Entscheidung führen können (Mangel an Motivation, finanzielle Probleme, körperliche/psychische/soziale Beeinträchtigungen, Unzufriedenheit mit dem Studienort, wenig soziale Kontakte, Wunsch nach Berufseinstieg). Es müssen also stets die verschiedenen Faktoren beachtet werden, welche zu einem Abbruch führen können. Eine reine Fokussierung auf fehlende Leistung oder eine pauschale Problematisierung eines Studienabbruchs ist hier nicht zielführend.
FAZIT: (Kernthesen zum Mitnehmen)
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Ein Gastbeitrag von Ilka Agricola und Verena Reiter
Einen weiteren Artikel der Autorinnen mit Zahlen rund um das Mathematikstudium finden Sie hier.
[1] Statistisches Bundesamt. Bildung und Kultur. Studierende an Hochschulen. Sommersemester 2021. Fachserie 11, Reihe 4.1, 2022, p. 97. Eigene Berechnung des Lehramtsanteils.
[2] Statistisches Bundesamt. Bildung und Kultur. Studierende an Hochschulen. Wintersemester 2020/2021. Fachserie 11, Reihe 4.1, 2021, p. 31.
[3] Bundeszentrale für politische Bildung. Wachsender Studentenberg – Entwicklung der Studierendenzahlen in Deutschland. https://tinyurl.com/546a23j4.
[4] Der Studienbereich Mathematik enthält die Studienfächer Mathematik (allgemein), Wirtschaftsmathematik, Technomathematik und Statistik
[5] Statistisches Bundesamt. Bildung und Kultur. Studierende an Hochschulen. Fachserie 11, Reihe 4.1, Jahrgänge 2001 bis 2021.
[6] Ilka Agricola and Verena Reiter. Zahlen rund um das Mathematikstudium 2.0. etc. p. 190 and 191
[7] Statistische Ämter des Bundes und der Länder. Internationale Bildungsindikatoren im Ländervergleich, 2021, p. 60.
[8] Statistisches Bundesamt. Bildung und Kultur. Personal an Hochschulen. 2019. Fachserie 11, Reihe 4.4, 2020, pp. 20-22.
[9] Ibid.
[10] Kompetenzz. Datentool Studium. https://www.kompetenzz.de/service/datentool/datentool-studium
[11] Ilka Agricola and Verena Reiter. Zahlen rund um das Mathematikstudium 2.0. etc. pp. 193-194
[12] Statistisches Bundesamt. Bildung und Kultur. Statistik der Promovierenden. 2020. 2021, p. 10.
[13] Statistisches Bundesamt. Bildung und Kultur. Prüfungen an Hochschulen. Fachserie 11, Reihe 4.2., Jahrgänge 2000-2020.
[14] Florentine Anders. Lehrermangel: Bis 2030 fehlen mindestens 81.000 Lehrkräfte. Das Deutsche Schulportal, 10.08.2021, https://deutsches-schulportal.de/bildungswesen/lehrermangel-bleibt-bundesweit-ein-problem/.
[15] Telekom Stiftung. Lehrkräftemangel in den MINT-Fächern: Kein Ende in Sicht. 01/2021, https://www.telekom-stiftung.de/sites/default/files/mint-lehrkraeftebedarf-2020-zusammenfassung.pdf.
[16] Klaus Klemm (im Auftrag des Verbandes Bildung und Erziehung). Entwicklung von Lehrkräftebedarf und -angebot in Deutschland bis 2035. Aktualisierte EXPERTISE mit Bezug auf die von der Kultusministerkonferenz (KMK) am 14. März 2022 veröffentlichte Berechnung „Lehrkräfteeinstellungsbedarf und -angebot in der Bundesrepublik Deutschland 2021 - 2035“. 2022. https://tinyurl.com/hk7shu3y.
[17] Ibid., p. 30
[18] Florentine Anders. Lehrermangel: Bis 2030 fehlen mindestens 81.000 Lehrkräfte. Das Deutsche Schulportal, 10.08.2021, https://deutsches-schulportal.de/bildungswesen/lehrermangel-bleibt-bundesweit-ein-problem/.
[19] Autorengruppe Bildungsberichterstattung. Bildung in Deutschland 2020. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung in einer digitalisierten Welt. Wbv Publikation, 2020, pp. 126-127.
[20] Ulrich Heublein and Robert Schmelzer. Die Entwicklung der Studienabbruchquoten an den deutschen Hochschulen Berechnungen auf Basis des Absolventenjahrgangs 2016. Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung, 10/2018, p. 7.
[21] Ibid, p. 15.
[22] Ibid., pp. 147-148.
[23] Gilbert Greefrath, Wolfram Koepf and Christoph Neugebauer. Is there a link between Preparatory Course Attendance and Academic Success? A Case Study of Degree Programmes in Electrical Engineering and Computer Science. International Journal of Research in Undergraduate Mathematics Education, 3(1), 2016. 143–167, p. 159.
[24] Katja Derr, Reinhold Hübl and Mohammad Zaki Ahmed. Prior knowledge in mathematics and study success in engineering: informational value of learner data collected from a web-based pre-course. European Journal of Engineering Education EJEE, 43(6), 2018, 911-926, p. 922.
[25] Ibid, p. 145.
[26] Jeremias Moser-Fendel and Lena Wessel. Relevante Fakten am Übergang Schule-Hochschule in Mathematik. GDM Mitteilungen, 107, 2019. 8-21, p. 20.
[27] Judith Glaesser, Pascal Kilian and Augustin Kevalava. Mögliche Vorläufer von Studienabbruch in der Mathematik: stabile Persönlichkeitsmerkmale und veränderliche affektive Zustände. Studienerfolg und Studienabbruch. Springer, 2021, 120-151, p. 147.