Jan Peter Schäfermeyer, ein Kollege aus der Optimierungstheorie, schrieb folgenden Beitrag, den wir unseren Leserinnen und Lesern nicht vorenthalten wollen:

Zur Frühgeschichte der Vektoriteration und der inversen Iteration

Die meisten Lehrbücher der numerischen Mathematik schreiben die Erfindung der Vektoriteration zur Berechnung des zum betragsgrößten Eigenwert gehörenden Eigenvektors Richard von Mises im Jahre 1929 zu (hier die Veröffentlichung von Von Mises).

Eine Ausnahme bildet das Buch "The Theory of Matrices in NumericalAnalysis" von Alston Householder aus dem Jahre 1964, in dem Chaim Müntz als Urheber dieser Methode genannt wird, dessen bekanntester Beitrag zur Mathematik das Müntz-Szasz-Theorem ist.

In zwei Artikeln der Comptes Rendus der Academie des Sciences aus dem Jahre 1913 hat Müntz in der Tat die Vektoriteration, die inverse Iteration und das, was heute als simultane (Trefethen/Bau, Bunse/Bunse-Gerstner) oder orthogonale (Golub/van Loan, Demmel) Iteration bezeichnet wird, für
symmetrische und unsymmetrische Matrizen vorgestellt.

Ohne Beweis behauptete er, dass diese Iterationen gegen die zum betragsgrößten und betragskleinsten Eigenwert gehörenden Eigenvektoren konvergieren, wobei zu beachten ist, dass diese Eigenwerte die reziproken nach heutiger Notation sind.

Einen Beweis, dass die Vektoriteration gegen den dominanten Eigenvektor konvergiert, hat Gerhard Kowalewski in seinem Buch "Einführung in die Determinantentheorie" aus dem Jahre 1909 geführt.

Interessanterweise wird sie allerdings nicht als eigenständige Methode vorgeschlagen, sondern steht im Kapitel Integralgleichungen unter der Überschrift "Vorbereitungen zu E. Schmidts Existenzbeweis" (S. 516ff.).

Erhard Schmidt hatte in seiner Dissertation von 1905 die Existenz des kleinsten Eigenwertes einer Integralgleichung nach einer Methode bewiesen, die er "einem berühmten Beweise von H.A. Schwarz nachgebildet" hatte.

Dieser hatte im Jahre 1885 für den Existenzbeweis der Eigenfunktion des Laplace-Operators eine als inverse Iteration in einem Funktionenraum zu identifizierende Methode wohl ad hoc erfunden, wie Dieudonne in seiner "History of Functional Analysis" bemerkt.

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die inverse Iteration zunächst auf dem Gebiet der klassischen Analysis entwickelt wurde, bevor sie auf das Eigenwertproblem bei Integralgleichungen und schließlich auf das Matrizeneigenwertproblem angewandt wurde.

Müntz hat die von ihm erfundene simultane Iteration zu einer Methode zur Berechnung aller Eigenwerte symmetrischer Matrizen und (diskretisierter) Integralgleichungen weiterentwickelt und im Jahre 1918 auf Polnisch und Deutsch publiziert (die deutsche Fassung beginnt auf Seite 142).

Eine Kurzfassung erschien 1917 in den Nachrichten der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen.

Zur Ehrenrettung von Richard von Mises sei noch angemerkt, dass er seinen Aufsatz von 1929 nicht als Originalarbeit konzipiert hat, vielmehr stellt dieser eine Ausarbeitung seiner Vorlesung über "Praktische Analysis" durch seine Assistentin und spätere Ehefrau Hilda Pollaczek-Geiringer dar.

Bereits im Jahre 1911 hat von Mises außerdem einen Aufsatz "Über die Stabilität rotierender Wellen" veröffentlicht, in dem er u.a. ein graphisches Verfahren von Vianello verwendete, das mathematisch der inversen Iteration äquivalent ist.

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