Am 12. November 2020 wäre der französische Mathematiker Georges Reeb 100 Jahre alt geworden. Einen Namen machte sich Reeb auf dem Gebiet der Differentialtopologie, dem Schnittbereich zwischen Topologie und Differentialgeometrie, die er unter anderem mit der Einführung von Blätterungen und den nach ihm benannten Reeb-Graphen bedeutend weiterentwickelte.

In der Differentialtopologie werden die in der Differentialgeometrie untersuchten Mannigfaltigkeiten mit Hilfe von Methoden aus der Topologie, also der Lehre von Eigenschaften, die Objekte beibehalten, wenn sie stetig verformt werden, analysiert. Bei Mannigfaltigkeiten handelt es sich um geometrische Objekte, die in einer Umgebung eines jeden Punktes („lokal“) so aussehen wie der n-dimensionale Anschauungsraum, selbst aber nicht notwendigerweise so aussehen müssen wie der n-dimensionale Anschauungsraum. Prominentes Beispiel für eine Mannigfaltigkeit ist die Oberfläche einer Kugel, da sie lokal so aussieht wie eine Ebene (man denke an eine Landkarte, die bspw. Teile Europas abbildet), sich global jedoch nicht wie eine Ebene verhält.

Reeb wurde 1920 im Ort Saverne im Elsass, nur 40km von Straßburg entfernt, geboren. Zu einem Studium an der Universität Straßburg kam es jedoch nicht, weil die Universität Straßburg zu Beginn des Zweiten Weltkriegs nach Clermont-Ferrand in Zentralfrankreich evakuiert worden war. Dort studierte Reeb Mathematik und promovierte  1943 bei dem ebenfalls elsässischen Mathematiker Charles Ehresmann. Reebs Doktorarbeit trug den Titel Propriétés topologiques des variétés feuilletées (Topologische Eigenschaften geblätterter Mannigfaltigkeiten). Mit Ehresmann verband ihn eine langjährige wissenschaftliche Zusammenarbeit und Freundschaft.

Nach Aufenthalten am Institute for Advanced Studies in Princeton, Pennsylvania und der Universität Grenoble, Frankreich, ging er 1963 zurück nach Straßburg, wo er 1966 zusammen mit Jean Frenkel das renommierte Institut de Recherche mathématique Avancée gründete, dem er von 1967 bis 1972 als Präsident vorstand. Das Institut, das einige der bedeutendsten französischen Differentialgeometer seiner Zeit, wie Jean-Louis Koszul oder Fields-Medaillen-Gewinner René Thom beschäftigte, fungierte als eine Art Gegenpol zum Institut des hautes études scientifiques bei Paris, an dem die Mathematikerschule um Alexander Grothendieck forschte und arbeitete.

In höherem Alter beschäftigte sich Reeb auch mit Differentialgeometrie und Differentialgleichungen im Rahmen der Nichtstandardanalysis, einem Teilgebiet der Analysis, welches neben den klassischen reellen Zahlen auch unendlich kleine und unendlich große Zahlen kennt. Mit diesen hyperreell genannten Zahlen ist es möglich, Werkzeuge und Konzepte in der Analysis, wie Grenzwerte oder Ableitungen, in einem sehr eleganten Rahmen zu formulieren – mit dem Nachteil, dass die Theorie gegenüber der klassischen Analysis auf einem deutlich komplizierteren logischen Fundament steht.

Reeb starb am 6. November 1993 in Straßburg im Alter von 72 Jahren.

Neben seiner Theorie der Blätterungen, bei denen Mannigfaltigkeiten in Schichten, ähnlich denen eines Blätterteigs, zerteilt und untersucht werden, ist Reebs wohl wichtigste Leistung auf dem Gebiet der Differentialtopologie die Einführung des Reeb-Graphen, eines Konstrukts, welches die topologische Struktur von Höhenlinien von Funktionen auf Mannigfaltigkeiten kodifiziert. Punkte auf dem Reeb-Graphen heißen Kritische Punkte, auf denen sich die Topologie der Höhenlinien beispielsweise von punkt- auf schlaufenförmig oder von einer „8“-Form hin zu zwei Schlaufen (siehe Abb.).ändert. Reeb zeigte, dass eine kompakte Mannigfaltigkeit genau dann homöomorph, also im topologischen Sinne identisch zur Oberfläche einer (n-dimensionalen) Kugel ist, wenn es eine Funktion gibt, die genau zwei kritische Punkte hat – ein wichtiges Resultat, da das „Erkennen“ von Kugeloberflächen in der Differentialtopologie von fundamentaler Bedeutung ist.

Reeb graphicDer Reeb-Graph der Höhenfunktion eines Torus. Die Verzweigungspunkte, die sogenannten ‚kritischen Punkte‘ entstehen an den Stellen, an denen sich die Topologie der Höhenlinien ändert. Mit Hilfe des Reeb Graphen lassen sich unter anderem Kugeln erkennen, da sie, anders als alle anderen Mannigfaltigkeiten, genau zwei kritische Punkte haben.

 

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