'Anwendungen' von Stetigkeit.
Nachdem wir in den letzten vier Folgen eigentlich nur verschiedene Begriffe erklärt hatten (Metrischer Raum, Topologischer Raum, stetig, Fläche, kompakt, orientierbar), ist es wohl an der Zeit, mal wieder etwas zu beweisen.
Frage: gibt es auf der abgebildeten Temperaturverteilungskarte (Quelle: https://www.ssec.wisc.edu/data/comp/latest_cmoll.gif) zwei genau gegenüberliegende ('antipodale') Punkte der Erdoberfläche mit exakt gleicher Temperatur?
Satz: Auf der Erde gibt es zu jedem Zeitpunkt auf jedem Großkreis zwei antipodale Punkte, die die selbe Temperatur haben.
(Nüchterner ausgedrückt: auf der 2-dimensionalen Sphäre S
2 sei T:S
2---->R eine stetige Funktion. Dann gibt es auf jedem Großkreis einen Punkt x mit T(x)=T(-x).)
Dieser Satz ist aus metereologischer Sicht offensichtlich völlig nutzlos, zumal er ja noch nicht einmal sagt, wie man diese beiden Punkte gleicher Temperatur berechnen könnte.
Die Veranschaulichung mit den antipodalen Punkten ist also weniger eine Anwendung als eine Merkhilfe, allerdings eine recht effektive.
Richtige Anwendungen hat der Satz aber natürlich auch, dazu kommen wir weiter unten.
Beweis: Durch Projektion des Großkreises auf die Ebene kann man das Problem offenbar auf folgendes Problem zurückführen: Es sei eine Temperaturverteilung T auf dem Einheitskreis (in der Ebene) gegeben. Man zeige, daß es einen Punkt x auf dem Kreis mit T(x)=T(-x) gibt.
Diese Behauptung zeigen wir wie folgt: man betrachte die Funktion f(x)=T(x)-T(-x). Offensichtlich gilt f(-x)=-f(x) für alle x.
Wenn es ein x mit f(x)=0 gibt, sind wir fertig, weil dann T(x)=T(-x) ist.
Anderenfalls haben wir wegen f(-x)=-f(x) ein Paar antipodaler Punkte, an denen f unterschiedliche Vorzeichen hat (ich meine: in einem der beiden Punkte ist f positiv, im anderen negativ). Wenn wir jetzt entlang des Halbkreises von x nach -x gehen, dann ändern sich die Funktionswerte von f vom Positiven zum Negativen (oder umgekehrt), zwischendurch muß es (wegen der Stetigkeit der Temperaturverteilung) also einen Punkt p mit f(p)=0 geben. Für diesen ist dann also T(p)=T(-p).
Eine Verschärfung des gerade gezeigten Satzes ist das (2-dimensionale)
Borsuk-Ulam-Theorem:
Für jede stetige Abildung f:S2 ---> R2 gibt es einen Punkt x mit f(x)=f(-x).
(Die Erschwernis besteht darin, daß man jetzt Abbildungen nach R
2 statt nach R betrachtet. Einen Beweis findet man z.B.
hier.)
Wenn man diesen Satz in anschaulichen Begriffen formulieren will:
es gibt ein Paar antipodaler Punkte auf der Erdoberfläche mit gleicher Temperatur und gleichem Luftdruck. (Statt Temperatur und Luftdruck hätte man natürlich auch zwei beliebige andere Größen nehmen können, vorausgesetzt sie ändern sich stetig.)
Nun also zu ernsthafteren Anwendungen. (Das wird jetzt natürlich etwas vage, weil der Zusammenhang zwischen dem Borsuk-Ulam-Theorem und den folgenden Anwendungen sich nicht in wenigen Worten erklären läßt.)
Spieltheorie. Eine der Anwendungen paßt zufällig zu der in
zoon politikon gerade laufenden
Reihe zur Spieltheorie. Wirtschaftsnobelpreisträger
Robert Aumann (über den auf sb
hier schon berichtet wurde) hatte 1968 (in einer gemeinsamen Arbeit mit Maschler) die Vermutung aufgestellt, daß es in jedem wiederholten 2-Personenspiel, in dem einer der beiden Spieler über vollständige Informationen verfügt, ein Nash-Gleichgewicht geben muß (also ein Gleichgewicht, das die Spieler bei rationalem Verhalten nicht mehr verlassen werden). Diese Vermutung blieb wegen mathematischer Schwierigkeiten lange unbewiesen und wurde erst 1994 von Simon,Spiez,Torunczyk unter Benutzung einer verallgemeinerten Version des Borsuk-Ulam-Theorems bewiesen. (
Quelle)
Registerzuteilung Eine Anwendung in der Informatik. Das Borsuk-Ulam-Theorem wird zum Beispiel benutzt für die Berechnung von Schranken für die
chromatische Zahl eines Graphen. Das ist natürlich wieder eine inner-mathematische Frage, die aber bei vielen Algorithmen eine Rolle spielt, zum Beispiel zum Thema 'Scheduling' oder eben auch bei Zuteilung einer großen Anzahl von Programmvariablen auf eine kleine Anzahl von Registern im Hauptprozessor.
Graph colouring applications in the information technology sector include the so-called register allocation problem where the objective is to assign (program) variables to a limited number of computer registers (hardware devices) during execution, and the problem of testing printed electronic circuit boards for unintended short circuits (caused by stray soldering lines). (Zitiert aus
Burger, Nieuwoudt,van Vuuren.) Das wäre jetzt ein Thema für einen eigenen Artikel, den ich vieleicht irgendwann mal schreiben werde.
Andere Anwendungen sind Partitionsresultate (dazu kommen wir nächste Woche) und Komplexitätsschranken für algorithmische Probleme (das ist jetzt natürlich ein weites Feld)
Noch ein anderes (ähnlich gelagertes, freilich auch wieder eher theoretisches) Beispiel aus der Elementar-Geometrie, wie man Stetigkeit anwenden kann:
Jede geschlossene Kurve lässt sich durch ein Quadrat umschreiben.
Beweis: Zu jedem Winkel α findet man ein Rechteck, dessen erste Seite Neigungswinkel α hat und das die Kurve umschreibt. (Man nehme einfach ein sehr grosses Rechteck mit Neigungswinkel α, das gross genug ist um die Kurve im Inneren zu enthalten. Dann verschiebe man die Seiten durch Parallelverschiebung, bis sie die Kurve gerade berühren.) Sei A die Länge der ersten Seite, B die Länge der zweiten Seite. Falls A-B=0 ist, haben wir ein Quadrat. A und B hängen stetig vom Winkel α ab. (Das muss man strenggenommen eigentlich noch beweisen.) Nun erhalten wir für α=90
odasselbe Rechteck wie für α=0
o, wobei aber die Rolle von A und B vertauscht ist. Wenn also für α=0
o A>B ist, dann ist für α=90
o B>A (und umgekehrt). A-B ist also bei α=0
o positiv und bei α=90
o negativ, oder umgekehrt. Also muss A-B zwischendurch einmal den Wert 0 annehmen, wir bekommen also ein Quadrat.