"Todeszone der Mathematik" lautet der Titel einer Glosse im neuen SPIEGEL, Untertitel: "Die Hexenmeister der Zahlen verstehen ihr eigenes Fach nicht mehr."
Es geht um den Beweis der abc-Vermutung, den Shinichi Mochizuki
vor drei Jahren angekündigt hatte.

Über den schieden sich von Beginn an die Geister - manche (wie der Autor von
neverendingbooks) halten ihn für Unsinn (wozu Mochizukis unkonventionelle Präsentation - Bild oben - beitragen mag), andere organisieren Seminare und Konferenzen, um den Beweis zu verstehen. Die bisher größte Konferenz zum Beweis
fand diese Woche in Oxford statt - den Beweis versteht man auch danach noch nicht. Der SPIEGEL macht daraus eine Art Weltuntergang der Mathematik:
Wie soll die Zunft je herausfinden, ob der Beweis funktioniert? Fachleute vermuten, dass in solchen Fällen bald der Computer die Prüfung übernehmen muss. Ein bisschen traurig ist das schon. Ehedem erklommen die Mathematiker ohne Hilfsmittel, nur mit Geisteskraft, die schwindelnden Höhen umeigentlicher Integrale und fraktaler Minkowski-Würste. Sie waren die Extremkletterer der Wissenschaft. Und nun, in der Todeszone der Mathematik, müssen auch sie zum Sauerstoffgerät greifen.
Mal abgesehen davon, dass ich nicht daran glaube, dass ein Beweis wie der von Mochizuki in absehbarer Zeit einer Computerüberprüfung zugänglich sein wird (auch wenn es inzwischen natürlich schon durchaus bemerkenswerte Beweisüberprüfungen per Computer gibt), ist es nichts wirklich Neues, wenn die Korrektheit eines mathematischen Beweises über viele Jahre ungeklärt bleibt. Aus meinem Gebiet, der Topologie, fällt einem da etwa die Geschichte der Haken-Mannigfaltigkeiten ein.
Wolfgang Haken hatte 1953 in seiner Dissertation bewiesen, dass die später nach ihm benannten Mannigfaltigkeiten sich mittels einer endlichen Prozedur in 3-dimensionale Kugeln zerschneiden lassen. Veröffentlicht wurde das erst 1961 und wirklich verstanden hat es wohl erst
Waldhausen, der in den 60er Jahren auf dem Gebiet weiterarbeitete. Haken bewies dann 1977 (mit Appel) den
Vier-Farben-Satz (jede Landkarte der Ebene kann mit 4 Farben gefärbt werden, so dass benachbarte Länder unterschiedliche Farben bekommen) und auch dieser Satz war lange umstritten, weil er umfangreiche Computerrechnungen benutzte, die kein Mensch überprüfen konnte. (Eine Diplomarbeit, die 40% des Beweises von Hand überprüfte, fand immerhin 15 Fehler, wobei nur einer davon eine inhaltliche Korrektur am Beweis erforderte.) Erst 1996 fanden Robertson et al. einen einfacheren Beweis (immer noch mit Computerhilfe), der sich wohl inzwischen auch formell mit dem Computer überprüfen lässt. Hakens Zerlegung von Haken-Mannigfaltigkeiten wiederum war dann von Bedeutung für Thurstons Beweis der Hyperbolisierungsvermutung, für den der zwar 1982 die Fieldsmedaille erhielt, den damals aber kaum jemand (oder niemand?) verstand und dessen vollständige Details erst in den 90er Jahren von McMullen und Otal ausgearbeitet wurden. Bei Perelmans allgemeinem Beweis der Hyperbolisierungsvermutung dauerte es dann immerhin nur wenige Jahre, bis der Beweis allgemein anerkannt und auch von Experten verstanden war.
Es ist also nichts wirklich Ungewöhnliches, wenn die Korrektheit eines Beweises nach drei Jahren noch nicht geklärt wurde. Was diesmal anders ist, ist wohl, dass die Experten wirklich keine Meinung zu haben scheinen, ob der Beweis stimmen könnte - das war bei Thurston oder Perelman dann doch anders und auch beim Computerbeweis des Vier-Farben-Satzes hielten die Leute den Beweisansatz wohl durchaus für schlüssig. Diesmal scheint nicht nur die Korrektheit des Beweises, sondern auch die von Mochizukis gesamter Theorie völlig offen zu sein. Die Zahlentheorie-Community wird sich jetzt wohl in Gläubige und Ungläubige spalten :-)