Prof. Dr. Volker Bach,  Präsident der DMV (2015-2016) und Professor an der TU Braunschweig im Interview zum Thema Studienabbruch im Fach Mathematik.

Ein Interview von Ilka Agricola und Verena Reiter. Foto: Volker Bach (links) im Gespräch.

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Wie bewerten Sie die im Vergleich zu anderen Studienfächern hohe Abbruchquote in der Mathematik?

„Zunächst ist die Frage nach der Evidenz für diese Aussage zu stellen. Ich denke, dass die Abbruchquote des Studienfachs Mathematik nicht höher ist als die in anderen natur- und ingenieurwissenschaftlichen Fächern. Dies ist freilich kein Grund, sich zufrieden zurückzulehnen und hohe Abbruchquoten hinzunehmen. Gleichwohl muss hinterfragt werden, ob hohe Abbruchquoten an sich ein Problem darstellen. Vor zwanzig Jahren war eines der Hauptziele der Bachelor-/Masterreform die Verlagerung von Abbruchentscheidungen - wenn sie denn ohnehin getroffen werden - zum Studienanfang hin, sodass ein Studienabbruch in den meisten Fällen ein Wechsel des Studienfachs oder des Ausbildungsgangs bedeutet. Idealerweise geschieht dieser Wechsel innerhalb des ersten Studienjahres und deshalb ohne Verlust des Anspruchs auf Leistungen nach dem BAFöG. Das zentrale Anliegen muss es m.E. sein, dem Studienabbruch den Makel der Niederlage zu nehmen und vielmehr darin eine Chance zu sehen, eine Fehleinschätzung frühzeitig zu korrigieren und das eigene Glück (doch noch) zu finden - nur auf einem anderen Weg.“

 

Worin sehen sie die Hauptgründe für einen Studienabbruch im Studienbereich Mathematik?

„Wenn man sich die Zahlen etwa der Teilnehmer:innen in Laufe des ersten Semesters anschaut, tritt der absolut dominierende und triviale Hauptgrund hervor: Die meisten Studienabbrecher haben nie auch nur eine Vorlesung oder Übung besucht, sie sind „Karteileichen“. Über die Gründe des Abbruchs kann man nur spekulieren, für die meisten Hochschulen dürfte es an den Studierenden gewährten Vergünstigungen für den ÖPNV und Kinos usw. liegen, evtl. noch verbunden mit dem Warten auf die Zulassung zu einem anderen Studiengang, in den dann gewechselt wird. Da Mathematikstudiengänge in der Regel weder zulassungsbeschränkt sind noch besondere Voraussetzungen (z.B. ein Latinum) erfordern, sind sie ideal geeignet für solche Karteileichen. Diese Studienabbrecher:innen sollten in der Statistik gar nicht berücksichtigt bzw. herausgerechnet werden. Dies geschieht zum Glück schon an vielen Hochschulen, und dort erreicht die Abbrecherquote dann auch nicht mehr schwindelerregende Höhen.

Dann gibt es Studierende, die ihr mathematisches Talent und/oder ihre mathematische Neigung falsch einschätzen. Hier gibt es einen Mechanismus, der nur im Fach Mathematik wirkt: Die Studienanfänger:innen haben das Fach Mathematik zuvor 13 Jahre lang durchgehend im Schulunterricht kennengelernt. Sie haben also eine feste Vorstellung von dem, was sie im Studium erwartet. Es kommt aber ganz anders: Statt des zuvor bestenfalls heuristisch argumentierenden, aber im Wesentlichen beweisfreien Schulunterrichts, werden nun Definitionen präzise formuliert und die Sätze (die in der Schule gar nicht als solche bezeichnet wurden) pedantisch bis ins kleinste Detail bewiesen. Die Arbeitsweise an der Hochschule ist völlig anders als in der Schule, und auch ganz andere Fähigkeiten sind entscheidend für den Erfolg. Viele Studienabbrecher:innen stellen dann fest, dass sie diese Fähigkeiten nicht im genügenden Umfang mitbringen oder dass sie die Hochschulmathematik auch gar nicht so stark interessiert, wie sie vor dem Studium glaubten. Diese Beobachtung ist keineswegs neu und wurde schon vor mehr als hundert Jahren von Felix Klein als Diskontinuität bezeichnet.“

 

Sollte die Mathematik weitere Maßnahmen ergreifen, um die Abbruchquote zu reduzieren und wie könnten solche Maßnahmen aussehen?

„Viele Studienanfänger:innen in mathematischen Studiengängen haben in ihrer Schulzeit das Fach Mathematik mit Leichtigkeit, geringem Aufwand und guten bis sehr guten Noten bewältigt. Meistens haben sie die Hausaufgaben schnell und ohne fremde Hilfe erledigt. Nun erleben sie im Studium das erste Mal, dass sie zum Bewältigen des Stoffs richtig arbeiten müssen und dies für das Lösen der wöchentlichen Übungsblätter auch an allen Wochenenden. An dieses Tempo muss man sich erst einmal gewöhnen, deshalb sind Fragestunden und Zusatztutorien wichtige unterstützende Maßnahmen. Weiterhin sind viele Studienanfänger aus den o.g. Gründen Gruppenarbeit nicht gewohnt und kennen auch noch nicht ihre vielen Vorteile. Hier setzen viele Maßnahmen an und ermutigen Studierende, Lerngruppen zu bilden.

An vielen Hochschulen werden die Leistungen des ersten Semesters oder sogar des ersten Studienjahres nur mit bestanden/nicht bestanden bewertet und gehen nicht in die Abschlussnote ein. Dies vermindert den Leistungsdruck und glättet die o.g. Diskontinuität: Man sieht es nicht, falls der vermeintliche Überflieger in der Klausur des ersten Semesters die Bestehensgrenze nur knapp überschritten hat.

Weiterhin gibt es an vielen Hochschulen seit einigen Jahren flexible Eingangsphasen mit der Möglichkeit, die für das erste Semester vorgesehenen Module innerhalb eines ganzen Studienjahres zu erwerben (und so freilich länger bis zum Abschluss studieren zu müssen). Andere Hochschulen bieten Orientierungsstudiengänge an, die den dort eingeschriebenen Studierenden ein oder sogar zwei Jahre Zeit lassen, Einblick in viele Fächer zu gewinnen und sich erst dann sich für das eigentliche Studienfach zu entscheiden.“

 

Was raten Sie Schüler:innen, die ein Studium der Mathematik in Erwägung ziehen?

„Studieninteressierte, die ein Mathematikstudium in Erwägung ziehen, sollten in erster Linie Interesse und Freude an Mathematik haben. Es reicht nicht, wenn es ihnen nur leicht fällt. Es reicht auch nicht, wenn sie Mathematik nützlich finden oder meinen, später damit viel Geld verdienen zu können. Ich würde ihnen weiterhin raten, die eigenen mathematischen Fähigkeiten mit dem Hamburger MINTFIT-Test zu überprüfen und Defizite ggf. mit Online-Kursen wie OMB+ oder VE&MINT auszugleichen. Auch in Buchform gibt es mathematische Stoffsammlungen, die man zu Rate ziehen kann, wie etwa Schulwissen Mathematik von Winfried Scharlau.“

 

Weshalb sehen Sie eine besondere Bedeutung der Mathematik in der Studienabbruchthematik im Allgemeinen?

„Das Fach Mathematik ist mit Lehrveranstaltungen in allen MINT-Fächern fest integriert und stellt in vielen MINT-Studiengängen für die Studierenden die größte Hürde für den erfolgreichen Abschluss ihres Studiums dar. Dies spiegelt sich in der Tatsache wider, dass Mathematikmodule über die Fächergrenzen hinweg in allen Studienangeboten mit flexibler Eingangsphase oder Orientierungsstudiengängen fest verankert sind: Wenn Studierende diese erstmal geschafft haben, sind sie einen großen Schritt weiter! Den Studierenden im Fach Mathematik darf man unterstellen, dass sie auch Interesse an Mathematik ins Studium mitbringen. Die sehr viel größere Gruppe der Studierenden der INT-Fächer sind hingegen im Allgemeinen keine Überzeugungstäter, und viele von ihnen empfinden das Lernen von Mathematik als notwendiges Übel auf dem Weg zu ihrem eigentlichen Ziel - dem Abschluss ihres Fachs. Ich halte es für viel wichtiger, für diese Studierenden Maßnahmen entwickeln, als die Energie auf die Mathematikstudierenden zu richten.

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