Mathematikstudierende werden später zu Mathematikern und Mathematikerinnen – möchte man meinen. Dem ist tatsächlich nur in einem Teil der Fälle so. Genauso unsichtbar wie die Mathematik selbst im Alltag ist, so sind Mathematiker und Mathematikerinnen nach ihrem Abschluss nur sehr schwer auffindbar. 28% der Absolventen und Absolventinnen des Studienbereichs Mathematik in Deutschland werden im Schulbetrieb tätig, 17% werden als Experten und Expertinnen im MINT-Bereich eingesetzt und 41% finden eine Anstellung im IT- oder Finanzbereich, in Unternehmen oder in Organisationen.[1] In Arbeitsmarktstatistiken ist später kaum mehr nachverfolgbar, ob es sich bei diesen Personen einmal um Absolvent*innen der Mathematik gehandelt haben könnte, da sie unter einer Vielzahl von Berufsbezeichnungen gelistet werden, jedoch nur noch selten als Mathematiker oder Mathematikerinnen. Der Mathematiker Günter Ziegler sprach daher einmal von einem „Bermuda-Dreieck“, in dem 90% der Mathematiker und Mathematikerinnen statistisch betrachtet verschwinden und nur schwerlich wieder auffindbar sind.[2] Der Grund hierfür liegt oft in der universellen Ausbildung von Mathematiker*innen, welche ihnen eine berufliche Tätigkeit in zahllosen Bereichen ermöglicht.
Das Ziel dieser Publikation ist nicht nur „die Mathematik“ sichtbar zu machen, sondern auch die Personen, die hinter dieser Mathematik stehen. Hierfür soll ein detaillierter Blick auf den Arbeitsmarkt der Mathematiker und Mathematikerinnen geworfen werden. Soweit möglich wird hierfür auf verfügbare Zahlen der Arbeitsagentur oder anderweitigen Statistiken zurückgegriffen. Wie bereits erwähnt, stößt die Recherche hier jedoch sehr schnell an ihre Grenzen, sodass der Fokus dieses Kapitels auf dem Aufspüren derjenigen liegt, die in diesem Bermuda-Dreieck verschwunden zu sein scheinen. Hierbei werden Veränderungen und Entwicklungen auf dem branchentypischen Arbeitsmarkt aufgezeigt sowie ein Blick in die Zukunft der Arbeitswelt von Mathematikern und Mathematikerinnen geworfen. Fakten und Zahlen werden dabei durch qualitative Recherche ergänzt, denn der Wert der Mathematik für unsere Gesellschaft und Volkswirtschaft lässt sich nicht nur an Zahlen festmachen.
Da es in Deutschland keine Meldepflicht für offene Stellen gibt, ist der Bedarf an Arbeitskräften deutlich höher als die Zahl der gemeldeten Stellen. Weniger als 20% der Stellen für Akademiker*innen werden bei der Bundesagentur für Arbeit angezeigt. Bei den anderen Qualifikationsniveaus sind es nur geringfügig mehr.[3] Dies trägt neben der bereits komplizierten Nachverfolgbarkeit der Lebensläufe von Mathematiker*innen zusätzlich dazu bei, dass es nur schwer möglich ist, ein Bild des mathematischen Arbeitsmarkts zu zeichnen.
Laut der interaktiven Statistik der Bundesagentur für Arbeit gibt es in der Berufsgruppe 411: „Mathematik und Statistik“ im Jahr 2021 in Deutschland 10.010 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Das ist eine Steigerung von 4% gegenüber dem Vorjahr und von 7% gegenüber dem Jahr 2019. Als wichtigste Beschäftigungsbranchen werden Versicherungen und Pensionskassen, Forschung und Entwicklung und die Kategorie „Öffentliche Verwaltung, Verteidigung, Sozialversicherung“ genannt. Auf 100 gemeldete sozialversicherungspflichtige Stellen kommen laut der Bundesagentur für Arbeit 436 Arbeitslose, was einen deutlichen Kräfteüberschuss bedeuten würde, eine geringe Chance eine Anstellung zu finden und eine berufsspezifische Arbeitslosenquote von 6.0%.[4] Spätestens hier wird klar, dass auf die Statistik der Bundesagentur für Arbeit bei der Berufsgruppe der Mathematiker*innen absolut kein Verlass ist.
Die studienfachspezifische Arbeitslosenquote ist laut einer Broschüre der Bundesagentur für Arbeit mit 2,4% bei Mathematiker*innen, wie bei fast allen Akademiker*innen, sehr gering und die Zeit der Arbeitslosigkeit ist meist verhältnismäßig kurz.[5] Die hohe Arbeitslosenquote von 6% in der oben genannten interaktiven Statistik beruht daher auf der geringen Anzahl der gemeldeten Stellen, der häufigen Anstellung von Mathematiker*innen unter anderen Berufsbezeichnungen und der Tatsache, dass sich arbeitslose Mathematiker*innen erstmal offiziell als solche melden, auch wenn sie bei einer späteren Anstellung eine andere Bezeichnung tragen. Aus den Daten der Bundesagentur für Arbeit kann somit kein Rückschluss vom Studienfach auf den ausgeübten Beruf hergestellt werden. So werden sie dem Arbeitsamt zum Beispiel auch als Consultants, Manager*innen oder Data Scientists gemeldet und tauchen folglich in der Statistik nicht mehr als Mathematiker*innen auf.
Der Mangel an Mathematiker*innen, welchen das Institut der Deutschen Wirtschaft anmahnt, widerspricht ebenfalls deutlich der interaktiven Statistik der Bundesagentur. Insgesamt lässt sich zudem festhalten, dass jede vierte neu gemeldete Stelle auf einen Beruf aus dem MINT-Bereich entfällt[6] und die Arbeitslosigkeit in allen Anforderungsniveaus und in allen MINT-Berufen kontinuierlich sinkt.[7] Die Arbeitslosigkeit im ganzen MINT-Bereich liegt bei 2,2%[8], sodass die Zahlen aus dem MINT-Bereich mit denen der Mathematiker*innen vergleichbar sind. Dieter und Törner sprechen in ihrer Analyse des Arbeitsmarkts für Mathematiker*innen daher von Vollbeschäftigung. Sie konnten mit ihrer Recherche ihre Hypothese bestätigen, dass sich Mathematiker*innen ihren Arbeitsplatz aufgrund der hohen Nachfrage aussuchen können. [9]
Frauen auf dem MINT-Arbeitsmarkt
Immer wieder heißt es, dass Frauen sich deutlich weniger für Berufe aus dem MINT-Bereich interessieren. Ihnen wird häufig ein primäres Interesse für soziale, künstlerische, geisteswissenschaftliche Themen oder Tätigkeiten im Gesundheitsbereich zugeschrieben. Dies wirkt sich auch auf die späteren Löhne und Berufschancen von Frauen aus, da diese in MINT-Berufen oft höher sind als in anderen Branchen.
Insgesamt ist zwar über das letzte Jahrzehnt ein Anstieg von sozialversicherungspflichtigen Frauen in MINT-Berufen zu verzeichnen, denn der Frauenanteil in dieser Branche hat sich von Ende 2012 bis Ende März 2020 von 875.100 auf 1.074.300 Beschäftigte und damit um knapp 23% erhöht. Dennoch ist der Frauenanteil in MINT-Berufen insgesamt von 13,8% auf erst 15,3% gestiegen, sodass Frauen immer noch eher die Ausnahme als die Regel darstellen.[10] Darüber hinaus befinden Frauen sich häufiger als Männer in befristeten Arbeitsverhältnissen und profitieren damit nicht in gleichem Ausmaß wie Männer von den eigentlich sehr guten Beschäftigungsverhältnissen im MINT-Bereich:
Bamberger Forschende haben es sich zur Aufgabe gemacht herauszufinden, weshalb Frauen in MINT-Berufen immer noch stark unterrepräsentiert sind. Häufig geht man davon aus, dass Frauen in der Schule einfach schlechter in Mathematik sind oder ihre mathematischen Kompetenzen unterschätzen und daher kein Studium im MINT-Bereich aufnehmen würden. Diese Annahme wurde jedoch von der Forschergruppe in Frage gestellt, denn die Unterschiede zwischen den Mathematikleistungen von Schülerinnen und Schülern sind nicht signifikant. [12]
Was Bamberger Forschende für ausschlaggebend für eine spätere Karriere im MINT-Bereich halten, „ist der Vergleich von Mathematikleistungen mit den Leistungen in anderen Fächern, insbesondere den Leistungen im sprachlichen Bereich. Dies ist insofern wichtig, als neuere Studien für Deutschland zeigen, dass sich zwischen Mädchen und Jungen die Leistungen im Fach Mathematik nur geringfügig unterscheiden, aber bei den Schülerinnen oft die Noten in Deutsch besser sind als im Fach Mathematik, während die männlichen Schüler häufig Mathematiknoten haben, die über den Leistungen in Deutsch liegen. Mit anderen Worten: Jungen sind in Mathematik relativ gesehen besser als in Deutsch und Mädchen sind in Deutsch relativ besser als in Mathematik.“ [13]
Empirische Analysen haben gezeigt, dass eine gute Mathematiknote zwar die Wahrscheinlichkeit für das Studium eines MINT-Fachs erhöht, dies jedoch den Geschlechterunterschied nur in 6% der Fälle erklärt. Betrachtet man hingegen die Mathematiknote in Relation zur Deutschnote, so kann der Geschlechterunterschied bei der Studienwahl zu 21% erklärt werden. Die Mathematikleistung von Schülerinnen ist also nicht allein ausschlaggebend, sondern in welcher Beziehung diese zur Deutschnote steht.[14]
Das Institut der deutschen Wirtschaft sieht vor allem in den hochaktuellen Themen Nachhaltigkeit und Umwelt eine Chance, mehr Frauen für einen MINT-Beruf zu begeistern, denn gerade sie hätten daran ein großes Interesse.
„In einzelnen MINT-Studiengängen konnte festgestellt werden, dass die Frauenbeteiligung höher ausfällt, wenn gezielt Umweltthemen in diesen Studiengängen aufgegriffen werden. Frauen bewerten die Sinnhaftigkeit ihres Berufs oft höher als Männer.“[15]
Ein Vergleich zwischen Ost- und Westdeutschland zeigt, dass im Hinblick auf Frauen im MINT-Bereich das Potential definitiv noch nicht ausgeschöpft ist. In Ostdeutschland sind, wie auch in der früheren DDR üblich, mehr Frauen in MINT-Berufen tätig. Es wäre also zumindest möglich, das Ost-West-Gefälle auszugleichen. Dies wäre ein entscheidender erster Schritt, denn es ist wichtig, auch mehr Frauen für MINT-Berufe zu begeistern, um den Mangel an Arbeitnehmer*innen in diesem Bereich auszugleichen.
Ist Deutschland dies langfristig nicht möglich, wird dieser Mangel verheerende Folgen für die Innovations- und Wirtschaftskraft unseres Landes haben. Der Frauenanteil der MINT-Absolvent*innen stagniert seit einigen Jahren und liegt deutlich unterhalb der ursprünglich angestrebten Zielgröße in Höhe von 35%. Das Potenzial von Frauen in diesem Maße zu erschließen, ist ausschlaggebend, um zukünftige Engpässe auf dem Arbeitsmarkt abzumildern und um den Arbeitsmarkt diverser und gleichberechtigter zu gestalten. Der Startwert lag im Jahr 2005 bei einem Frauenanteil von 30,6% unter den MINT-Erstabsolvent*innen. Bis zum Jahr 2020 konnte dieser Wert lediglich auf 32,5% gesteigert werden.[17]
Betrachtet man den Anteil von Frauen in MINT-Ausbildungsberufen, muss man leider feststellen, dass dieser erschreckend gering ausfällt. Der Startwert 2012 lag bei 7,7% und konnte bis zum Jahre 2020 lediglich auf 8,9% gesteigert werden.[18] Dies bedeutet, dass nicht einmal jeder zehnte MINT-Ausbildungsberuf von einer Frau ausgefüllt wird, obwohl insbesondere im Bereich der Fachkräfte die Arbeitskräftelücke besonders groß ist und sich noch verstärken wird.
Wie sich die Situation von Frauen in der Mathematik gestaltet, hängt laut der emeritierten Professorin und Aktivistin für Frauen in der Mathematik, Marie-Françoise Roy,[19] vor allem davon ab, welche Indikatoren man hierfür analysiert: „Wenn Sie den Anteil weiblicher Autoren in der Mathematik weltweit betrachten, so gibt es in den letzten 50 Jahren einen kontinuierlichen (sic!) Anstieg; derzeit sind etwa 30% der Autoren von mathematischen Arbeiten weiblich. Aber wenn Sie die Publikationen in den Spitzenzeitschriften anschauen, sieht die Situation ganz anders aus: Trotz des wachsenden Frauenanteils unter den Autor* innen stagniert der Frauenanteil in Top-Zeitschriften. Darüber hinaus ist die Situation in der Mathematik und in der theoretischen Physik viel schlechter als in anderen Disziplinen wie Astronomie, Astrophysik oder Chemie, wo eine positive Veränderung zu beobachten ist.“[20]
Hinsichtlich weltweiter Besonderheiten der Rolle und Position von Frauen in der Mathematik sind für Roy keine deutlichen Unterschiede zwischen den Ländern erkennbar: So „berichten Frauen deutlich häufiger als Männer über Diskriminierung aufgrund ihres Geschlechts. Frauen berichten auch seltener als Männer, von Kollegen respektvoll behandelt zu werden.“[21] Allerdings berichten Frauen, „die in der Industrie, in Nichtregierungsorganisationen und in Primar- und Sekundarschulen tätig sind, häufiger von einer respektvollen Behandlung durch Kollegen als jene, die im akademischen Bereich oder im staatlichen Sektor arbeiten.“[22]
Marie-Françoise Roys Empfehlungen für eine gelungene Zukunft von Frauen in der Mathematik:[23]
Marie-Françoise Roy engagiert sich seit Jahrzehnten für Frauen in der Mathematik. Unter anderem deshalb wurde sie von der DMV als Mathemacherin der Monate Mai und Juni 2023 ausgezeichnet. Im Jahr 2020 hat sie für die DMV-Mitteilungen ein Interview zum Thema Frauen in der Mathematik gegeben. |
Integration
Wie kaum ein anderes Fachgebiet bietet der MINT-Bereich hervorragende Chancen für die Integration von ausländischen Bewerber*innen am Arbeitsmarkt. Mathematik, ingenieurwissenschaftliche Errungenschaften, naturwissenschaftliche Gesetze als auch Technik basieren weltweit meist auf den gleichen Grundlagen und Anwendungen, sodass eine gute Übertragbarkeit der erlernten Fähigkeiten und Kenntnisse aus dem Heimatland möglich ist. Der MINT-Bereich bietet hier insbesondere für Akademiker*innen ausgezeichnete Chancen, auf dem deutschen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Dies ist ein Gewinn für beide Seiten, da die betreffende Person schnell integriert werden kann und dem Arbeitskräftemangel in Deutschland durch qualifizierte Arbeitnehmer*innen aus dem Ausland entgegengewirkt wird. Der Anteil von MINT-Akademiker*innen mit Migrationserfahrung ist in Deutschland im Zeitraum von 2011 bis 2019 von 14,3% auf 20,5% gestiegen, denn die sogenannte „Arbeitsmarktverwertbarkeit“ ihrer Qualifikationen ist beispielhaft.[24] Zugewanderte MINT-Akademiker*innen sind dabei nicht nur im Bereich niedrigschwelliger Positionen tätig. So besetzen beispielsweise rund 12% eine Führungsposition. Berücksichtigt man Aufsichtstätigkeiten beträgt der entsprechende Anteil 29,3%.[25] Migranten und Migrantinnen liefern damit insbesondere im MINT-Bereich einen wertvollen und wichtigen Beitrag zu unserer Volkswirtschaft. Mathematik ist hierfür nicht nur ein wunderbarer Motor für eine gelungene Integration, sondern auch ein Fachbereich, welcher von der Vielfalt profitiert, die durch ausländische Bewerber*innen entsteht, nicht zuletzt, da diese die notwendige Arbeitskraft einbringen, um Deutschlands führende Position in Forschung, Entwicklung und Industrie nicht weiter zu gefährden.
Wir brauchen sie alle – Mathematiker*innen jeglicher Couleur. Wir brauchen sie nicht nur, da sie essentiell sind, um Deutschlands Bedarf an Arbeitskräften in diesem Bereich zu decken, sondern, auch, da Diversität die Mathematik bereichert. Diverse Teams, und damit soll nicht nur eine paritätische Verteilung der Geschlechter gemeint sein, arbeiten besser, innovativer, kreativer und zielgerichteter.[26] Diversität heißt, dass jeder das mitbringen soll, was er hat und so sein soll, wie er ist. Diversität heißt nicht nur Geschlechtergerechtigkeit, sondern bindet Menschen jeder Hautfarbe, jedes Geschlechts, jeder Religion, jeder Herkunft, jeden Alters, jeder sexuellen Orientierung und auch Menschen mit Behinderung ein.
Infobox: Diversität und Chancengleichheit in der Deutschen Mathematiker-Vereinigung Die Deutsche Mathematiker-Vereinigung heißt alle willkommen, die sich für Mathematik interessieren und eine Gemeinschaft aufbauen möchten, die vielfältig, respektvoll, zugänglich und integrativ ist. Die DMV schätzt die Vielfalt ihrer Mitglieder und der Teilnehmenden an DMV-Aktivitäten und sieht hierin einen positiven Wert. In der Folge hat das DMV-Präsidium im Jahr 2021 einen Beschluss für Chancengleichheit und Diversität verfasst, in dem es sich ganz klar gegen Diskriminierung aller Art stellt. Hier ein kurzer Auszug: „Als Fachgesellschaft verpflichtet sich die DMV, ein Umfeld zu schaffen, das die offene Meinungsäußerung und den Austausch von Ideen befördert sowie frei von jeglicher Form von Diskriminierung oder Belästigung ist. Chancengleichheit und Gleichberechtigung sind tragende Prinzipien der DMV. Eine Benachteiligung oder Bevorzugung aufgrund des Geschlechts, der Geschlechtsidentität oder des Geschlechtsausdrucks, der sexuellen Orientierung, der Abstammung, aus rassistischen Gründen, aufgrund der nationalen oder ethnischen Herkunft, der Sprache, des Glaubens, der religiösen Anschauungen, des Alters, des Familienstands oder des Aussehens ist ausgeschlossen. Eine Benachteiligung aufgrund einer Behinderung oder chronischen Erkrankung ist ausgeschlossen. Die DMV fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Das Positionspapier ist auf der Vereinsseite hinterlegt: https://www.mathematik.de/images/DMV/Die_DMV_als_Verein/TOP12_Positionspapier.pdf. Mittlerweile hat die DMV auch eine Fachgruppe Gender, Diversity and Sustainability in Mathematics, die sich für Diversität und Chancengleichheit einsetzt. |
Die Suche nach den Mathematiker*innen
Wer sind eigentlich Mathematiker*innen und wo sind sie nach ihrem Abschluss aufzufinden? Törner, Berndsten und Peters-Dasdemir beklagen, dass „das Berufsfeld einer Mathematikerin bzw. eines Mathematikers eher unterentwickelt ist“. Dies erfordere „von den Stellensuchenden Flexibilität und Offenheit, Interesse an interdisziplinären Anwendungen von Mathematik und auch die Bereitschaft, sich in Teams einzuarbeiten, auf jeden Fall auch der kompetente Umgang mit unbekannter Software“. Letztendlich ist es so, dass sich „Absolventen im weiten Mathematik Arbeitsmarkt der 110 000 Erwerbstätigen mit mathematischer Qualifikation letztlich ‚verlieren‘ und sich zumeist Aufgaben zuwenden müssen, die während der Ausbildung kaum thematisiert wurden“.[27] Als häufige Arbeitsfelder der von ihnen interviewten Mathematiker*innen, werden von Törner et al. Wissenschaft und Schule, Finanz- und Versicherungswirtschaft, die Fahrzeug- und Flugzeugbranche, Beratungsfirmen, Schulbuchverlage, Programmier- und Softwareentwicklung, Ingenieurunternehmen, das Aktuarwesen, Projektmanagement, Spiel- und Leistungsanalyse, der IT-Bereich, der Gesundheitssektor, die Dokumentenanalyse, die Ökologie, diverse Start-ups als auch die öffentliche Verwaltung genannt.[28] Der eingangs gestellten Frage nach dem Verbleib von Mathematiker*innen soll sich der nachfolgende Abschnitt anhand konkreter Beispiele und Einblicke widmen.
Laut einer Studie von Deloitte Netherlands wird in den folgenden Branchen besonders intensiv mit Mathematik gearbeitet:
Der mathematische Stellenmarkt
Um einen besseren Einblick in den deutschen Arbeitsmarkt für Mathematiker*innen zu bekommen, haben wir eine Analyse von Stellenanzeigen auf den einschlägigen Stellenportalen[30] durchgeführt. Die Tätigkeitsbereiche, die sich hierbei herauskristallisieren, sind (1) Bildungswesen und Forschung, (2) Versicherungs- und Bankenwesen, (3) Unternehmen sowie (4) der öffentliche Dienst.
Im Bereich von Bildung und Forschung findet man üblicherweise Stellenanzeigen, die den meisten bekannt sein werden. Gesucht werden Lehrkräfte und Personal für das Hochschulwesen (Doktorand*innen, Wissenschaftliche Mitarbeiter, Professor*innen u.a.). Darüber hinaus gibt es noch Stellenangebote als Referent*innen für Analysen, Qualitätssicherung und Wissenschaftsmanagement an den diversen Hochschulen, Forschungsstandorten und wissenschaftsnahen Einrichtungen. Vereinzelt lassen sich zudem Gesuche für eine strategische Beratung im Bereich der digitalen Technologien finden.
Das klassische Aktuarwesen findet sich vor allem im Umfeld von Versicherern und Banken. Beinahe alle großen Versicherungsgesellschaften sind laufend auf der Suche nach ausgezeichneten Mathematiker*innen bzw. Aktuar*innen. Das Angebot ist hier groß und die Stellenanzeigen einfach zu finden, da meist gezielt nach Aktuaren (m/w/d) oder Versicherungsmathematikern (m/w/d) gefragt wird. Häufige Jobbetitelungen bzw. Aufgabengebiete für Mathematiker*innen im Bereich des Versicherungs- und Bankwesens sind zudem die Produktentwicklung/-gestaltung und die Tarifkalkulation (dies bezieht sich meist auf Versicherungsprodukte) oder auch das stark nachgefragte Risikomanagement. Spitzenverdiener*innen in der Mathematik finden sich vor allem im Bereich Risikoabschätzung in Banken und Unternehmensberatungen.[31] Häufig gesucht werden zudem Data Specialists/Analysts, Consultants und (aktuarielle) Controller. Hier lohnt sich jedoch ein genauer Blick auf die Stellenanzeige, da sich hinter diesen Bezeichnungen eine ganze Reihe an Tätigkeitsfeldern verbergen können. Mathematiker*innen stehen zudem natürlich Positionen als Underwriter*in oder Manager*in offen. Ähnliche Stellenprofile findet man zudem bei Krankenkassen, Pensionskassen oder auch Rückversicherern.
Bei Unternehmen und Start-ups wird die Beschreibung der gesuchten Position etwas vielfältiger. Hier muss man als Mathematiker*innen etwas genauer hinsehen, um feststellen zu können, auf welche Stelle man hier passen könnte. Großer Bedarf besteht auch hier an Data Specialists/Analysts/Scientists und an Consultants (insbesondere im Bereich IT Consulting und Cybersecurity). Stark umworben werden Mathematiker*innen dabei insbesondere von den großen Unternehmensberatungen. Gesucht werden zudem Programmierer*innen, Mitarbeitende in der Software- und Anwendungsentwicklung und im Tätigkeitsfeld Human Capital/Workforce Transformation. Darüber hinaus spielen Mathematiker*innen im Bereich der Optimierung, zum Beispiel in Logistikunternehmen, eine große Rolle.
Auch der öffentliche Dienst bietet eine kleine Auswahl an Stellen für Mathematiker*innen an, häufig als Statistiker*in, in der Anwendungsentwicklung und im IT-Servicemanagement oder auch als Data Analyst. Diese Stellengesuche sind jedoch weitaus weniger häufig als in den anderen Branchen. Stark umworben werden Mathematiker*innen jedoch vom Bundesamt für Verfassungsschutz. Hier stehen Mathematiker*innen eine Vielzahl von spannenden Tätigkeiten offen, beispielsweise in der technischen Aufklärung und Unterstützung, in der Abwehr und Prävention von Cyberangriffen und in den Bereichen KI und Big Data.
Die Arbeitgeber*innen der Mathematiker*innen
Möchte man herausfinden, wie viele Mathematiker*innen in Unternehmen, Behörden oder bei anderen Arbeitgeber*innen beschäftigt sind, findet man selbst nach langer Recherche wenig belastbare Daten. Zahlen zum Studienabschluss werden in den Personalabteilungen großer Unternehmen oft nicht erhoben. Beinahe die Hälfte der angefragten Unternehmen konnte uns keine Auskunft über die Mathematiker*innen in ihrem Haus geben. Eine häufige Antwort war, dass es zwar mit Sicherheit Absolvent*innen der Mathematik gibt, jedoch nicht klar ist, in welchen Positionen diese mittlerweile tätig sind oder wie groß ihr Anteil an der gesamten Belegschaft ist. Darüber hinaus besteht das bekannte Problem, dass Mathematiker häufig nicht mit dieser Bezeichnung eingestellt werden, sondern als Specialists, Consultants, Analysts und dergleichen. Unsere Umfrage unter in Deutschland ansässigen Unternehmen sowie eine eingehende Recherche auf LinkedIn erlauben es gleichwohl, ein grobes Bild zu zeichnen (alle Zahlen gerundet; teils Schätzungen der Unternehmen).
Versicherungs- und Bankenwesen
- Typische Versicherungen mit Privatkundengeschäft beschäftigen zwischen 1 % (Generali, AXA) und 3 % (Signal Iduna) Mathematiker*innen.
- Ein ähnliches Bild zeichnet sich bei Banken ab, wo unsere Berechnung auf einen Anteil zwischen knapp 2 % (Deutsche Industriebank) und 3 % (Deutsche Bank, Commerzbank) führt.
- Bei Rückversicherungen ist der Prozentsatz deutlich höher, er liegt etwa zwischen 5 % (Munich Re) und 10 % (Hannover Re).
- Einer der Spitzenreiter ist beispielsweise Meyerthole Siems Kohlruss (MSK), eine Gesellschaft für aktuarielle Beratung, bei der 75% der Mitarbeitenden Mathematiker*innen sind.
MSK betreibt im Unternehmen sowohl in der Statistik als auch in der Numerik mathematische Grundlagenforschung, um ihre Lösungsansätze in effizienten Computerprogrammen abbilden zu können. Die außerordentliche hohe Relevanz der Mathematik für dieses Unternehmen wird bei einem Blick auf die Belegschaft sichtbar. Von insgesamt 55 Angestellten sind 42 Mathematiker*innen. Davon sind bei MSK zwei Mathematiker*innen als Geschäftsführer, 26 als (leitende) aktuarielle Berater*innen, zwei als Softwareentwickler und 12 als aktuarielle Analyst*innen tätig.
„Wir lieben die Mathematik und sind dankbar, dass wir sie in unserer täglichen Arbeit anwenden dürfen. Mathematik ist für uns auch ein Instrument der kreativen Inspiration, um neue und effiziente Lösungsansätze oder Modelle zu entdecken. Wir sind auch Spezialist*innen in der mathematischen Kommunikation, d.h. unsere Arbeiten ‚ohne Formeln‘ verständlich zu erläutern. Da die Wertschöpfung von Versicherungsunternehmen im Kern durch und durch mathematisch geprägt ist, müssen sich Entscheider*innen und im Zweifel auch Nicht-Mathematiker*innen mit den aktuariellen Ergebnissen auseinandersetzen. Hier gilt es einen Spagat zu meistern: Die mathematischen Inhalte sind darzustellen nach dem Prinzip ‚so komplex wie nötig und so einfach wie möglich‘.“ (Onnen Siems, Geschäftsführer MSK)
Von der R+V Allgemeine Versicherung AG, einer der größten Versicherer Deutschlands, haben wir erfahren, dass die Mathematiker*innen bei R+V nur ein Prozent der Beschäftigten ausmachen, obwohl die Versicherungsbranche prinzipiell sehr „mathematikintensiv“ ist. Funktional sind sie vor allem in den drei Aktuariaten beschäftigt („Komposit“, „Personen“, „aktive Rück bzw. Financial Department“), aber teils auch im Gesamtrisikomanagement und im Risikocontrolling Finanzen. Mathematik wird im Konzern insbesondere gebraucht, um angemessene Preise festlegen und die Profitabilität von Versicherungsverträgen beurteilen zu können, aber auch die Steuerung eines Versicherungsunternehmens als Ganzes ist auf mathematische Methoden angewiesen (Stichworte sind hier Asset-Liability-Management und Solvency II). In der Kapitalanlage sind mathematische Methoden – ähnlich wie bei Banken – ebenfalls nötig, um Handel und Risikomanagement zu ermöglichen. Der Bedarf an mathematischen Fachkräften nimmt dabei kontinuierlich zu (unter anderem durch Themen wie Regulatorik und Bilanzierung). Zudem wächst das Aufgabenprofil der Mathematiker*innen bei der R+V auch jenseits der klassischen mathematischen Aufgaben kontinuierlich an, z.B. durch Fragestellungen im Bereich Datenmanagement oder Bilanzierung.
Beim Versicherungsunternehmen AXA Konzern AG kommen rund 120 Mathematiker*innen vor allem in zwei Sparten zum Einsatz: dem Aktuariat (Modellierung, Kalkulation, Berechnung von Wahrscheinlichkeiten) und einem übergreifenden Tätigkeitsfeld (Analytische Bewertung, Underwriting, Geschäftsfeldentwicklung), aber vereinzelt auch in Managementpositionen.
„Mathematik ist die absolute Grundlage jeder Versicherung. Ohne Mathematik kann es keine risikogerechte Tarifierung geben und somit keine Möglichkeit für die Unternehmen in der heutigen Welt wirtschaftlich zu arbeiten. Wichtiges Stichwort ist hier die Antiselektion, d.h. dem Vorbeugen schlechter Risiken innerhalb des Portfolios, welche man nur mittels statistischer Methoden erkennen und korrekt bepreisen kann. Auch das Thema der Reservierung und Rückstellung kann nur sauber mit mathematischen Verfahren ermittelt werden. Mathematische Kalkulationen und Projektionen sichern unsere Solvenzsituation und geben somit den Kunden, dem Markt und den Shareholdern Sicherheit. Gleichzeitig kann durch differenziertes aktuarielles Pricing das Portfolio profitabel gesteuert werden. Durch das Anwenden von neuen, mathematischen Methoden können bestehende Prozesse und Analysen immer wieder aufs Neue verbessert werden.“ [32] (AXA Konzern AG)
In unserem Gespräch mit der Münchener Rückversicherungsgesellschaft Munich Re wurde abermals deutlich, dass Mathematiker*innen unter allen möglichen Jobbezeichnungen zu finden sind, nur nicht als Mathematiker*in. Eine interne Analyse der Munich Re hat ergeben, dass der Anteil der Mathematiker*innen am Sitz des Unternehmens in München derzeit um die 4,5% beträgt. Der Großteil, der bei Munich RE beschäftigten Mathematiker*innen, sind unter den Jobbezeichnungen (Senior) Actuary, Pricing Actuary und (Senior) Valuation Actuary gelistet. Bis auf die Jobbezeichnung Senior Consultant Mathematik gibt es unter den anderen Titeln erstmal keinen klaren Hinweis darauf, dass es sich hierbei um eine*n Mathematiker*in handeln könnte. Auch der Zusatz ‚Data‘ ist hier kein Indikator, da es sich um alle möglichen Daten handeln könnte. Das Beispiel der Munich Re verdeutlicht zudem auch erneut, dass bei Versicherungsunternehmen das Aktuarwesen den Kernbestandteil der mathematischen Tätigkeiten ausmacht.
Bei der Deutschen Industriebank sind Mathematiker*innen vor allem in vier Bereichen tätig, genaue Zahlen liegen der Bank jedoch nicht vor. Als klassisches Einstiegsfeld gilt die Arbeit im IT-Bereich der Bank, wo Mathematiker*innen sich mit der Ausdifferenzierung von IT-bezogenen Geschäftsfeldern, dem Coding, Algorithmen und natürlich auch mit Fragestellungen zu Big Data befassen. Ein weiteres Einsatzgebiet findet sich im Bereich von aktuariellen Aufgaben der IKB. Mathematiker*innen analysieren hier die Marktfolge und Anlagestrategien, kümmern sich um das Risikocontrolling und treffen Vorhersagen zu Kursmodellen. Aufgrund des Schwerpunkts der IKB im Kreditgeschäft, sind viele Aufgaben in diesem Portfolio zu finden. Die IKB verzeichnet im aktuariellen Tätigkeitsfeld, wie viele andere Arbeitgeber*innen, einen Nachwuchsmangel durch rückgängige Bewerber*innenzahlen.
Öffentlicher Dienst
- Die Statistischen Ämter wie das Deutsche Bundesamt für Statistik (Destatis) oder das Statistische Amt der Europäische Union (Eurostat) weisen mit 6% und 16% zwar einen höheren Anteil an Mathematiker*innen auf als viele Unternehmen und Ämter, dennoch hätte man bei einem Amt für Statistik eine sogar noch höhere Quote erwartet.
- Eine Quote von 2-3% Mathematiker*innen findet sich auch in den Bundesbehörden und Bundesanstalten wie dem Deutschen Wetterdienst oder der Deutschen Bundesbank. Spitzenreiter sind hier das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik und die Bundesanstalt für Finanzdiensleistungsaufsicht (BaFin) – hier haben rund 6% bzw. 7% der Mitarbeitenden einen Abschluss in Mathematik.
Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) ist die Cyber-Sicherheitsbehörde des Bundes und beteiligt sich maßgeblich an der Gestaltung einer sicheren Digitalisierung in Deutschland. Im Jahr 2020 hatten 72 von 1253 und damit knapp 6% der Beschäftigten des BSI eine mathematische Ausbildung. Die meisten von ihnen sind in den Abteilungen „Krypto-Technik und des IT-Management“ und „Cyber-Sicherheit in der Digitalisierung und für elektronische Identitäten“ zu finden. Weitere Mathematiker*innen sind im Bereich „Operative Cyber-Sicherheit“, „Cyber-Sicherheit für Wirtschaft und Gesellschaft“ und in der „Beratung für Bund, Länder und Kommunen“ tätig.
Unternehmen
Bei Unternehmen gibt es naturgemäß stärkere Schwankungen, die sich aus deren thematischer Ausrichtung und Größe ergeben. Ein größeres Unternehmen bedeutet meist nicht eine größere Anzahl an Mathematiker*innen.
- Energieversorger beschäftigen unterschiedlich viele Mathematiker*innen – bei E.ON sind dies etwa 1 %, bei RWE knapp 3%.
- Tech-Unternehmen wie Google oder SAP beschäftigen zwischen 2% und 3% Mathematiker*innen.
- In der Luftfahrtbranche, wie beispielsweise bei Airbus, finden sich ebenfalls rund 2% Mathematiker*innen.
- Auch Unternehmensberatungen setzen vermehrt auf Mathematiker*innen: Bei McKinsey & Company sind es 5 %, bei der auf die Tech-Branche spezialisierten Firma d-fine sogar 45 % der Belegschaft.
Daneben gibt es aber auch, vor allem kleinere, Unternehmen, welche extrem viele Mathematiker*innen beschäftigen.
LBW entwickelt mathematische Hochleistungs-Optimierungskerne für Planungssysteme des Nah-, Bahn- und Luftverkehrs. LBW bietet dabei State-of-the-Art Optimierungsverfahren für Umlauf- und Dienst- und Dienstreihenfolgeplanung im Nah-, Bahn- und Luftverkehr, Hochleistungsalgorithmen für hohe Lösungsqualität und Performanz und regelgetreue Vollverplanung nach Kundenvorgaben. Bei LBW sind derzeit alle Beschäftigten Mathematiker*innen. Jed*e Mathematiker*in ist hier gleichzeitig auch ein Allrounder in den Projekten an der Schnittstelle zwischen unternehmerischen und wissenschaftlichen Interessen. Auch wenn LBW noch ein verhältnismäßig kleines Unternehmen ist, kann sich die Kundenliste durchaus sehen lassen. Zu ihren renommierten Kunden zählen DB Regio, ÖBB Postbus, Bundesamt für Güterverkehr, Berliner Verkehrsbetriebe, Trenitalia, IVU Traffic Technologies oder auch Lufthansa Systems. Hier zeigt sich, wie wenige Personen bei einem Kunden zu erheblichen Effizienzsteigerungen und Produktverbesserungen führen können!
Allgemein lässt sich festhalten, dass sich der Anteil der Mathematiker*innen in Unternehmen oder anderen Einrichtungen, welche prinzipiell an Mathematiker*innen oder den von ihnen mitgebrachten Kompetenzen interessieren, meist um die 2% bewegt. Auch wenn der Prozentsatz selten zweistellig ist, bleibt der Wirkungsgrad der Mathematiker*innen in den betrachteten Unternehmen dennoch sehr hoch. Sie nehmen einen hohen Anteil an der Wertschöpfung ein und sind nicht selten federführend im Bereich Innovation und Entwicklung.
Bildung und Forschung
- Bei Forschungsinstituten, Hochschulen und anderen bildungs- und forschungsnahen Einrichtungen kommt es natürlich im Besonderen auf deren Schwerpunkte an.
- Bei der Europäischen Organisation für Kernforschung (CERN) in Genf sowie der Europäischen Weltraumorganisation (ESA) haben 4 % der Belegschaft einen Studienabschluss in Mathematik.
- Einige außerhochschulische Forschungseinrichtungen haben sich konkret auf Mathematik spezialisiert und beschäftigen wie das Fraunhofer-Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik über 50% Mathematiker*innen.
Forschungszentren wie das Fraunhofer-Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik (ITWM) mit Sitz in Kaiserslautern sind nicht nur einer der wichtigsten außerhochschulischen Arbeitgeber für Mathematiker*innen in Deutschland, sondern auch die Orte, wo neue mathematische Erkenntnisse und Anwendungen für die Industrie entstehen. Ihre Grundpfeiler sieht das ITWM dabei in den klassischen Disziplinen der angewandten Mathematik, wie beispielsweise der Numerik, der Differentialgleichung, der Stochastik oder auch der Optimierung. Ihre anwendungsorientierten Kernkompetenzen sehen die Forschenden des ITWM in der Verarbeitung der aus Experimenten und Beobachtungen gewonnenen Daten, Aufsetzung mathematischer Modelle und der Umsetzung mathematischer Problemlösungen in numerische Algorithmen. Darüber hinaus befassen sie sich mit der Zusammenfassung von Daten, Modellen und Algorithmen in Simulationsprogramme, der Optimierung von Lösungen in Interaktion mit der Simulation sowie der Visualisierung der Simulationsläufe in Bildern und Grafiken. Mit den angebotenen Dienstleistungen adressiert das ITWM vor allem Firmen und Organisationen in den folgenden Branchen: Verfahrenstechnik / Maschinen- und Anlagenbau; Fahrzeugindustrie und Zulieferer; Medizin und Medizintechnik; Energie- und Rohstoffwirtschaft; Technische Textilien; Informationstechnologie und Finanzwirtschaft. Durch die langjährige Zusammenarbeit mit einigen Stammkunden hat sich eine gewisse Domänenkompetenz in Teilbereichen einzelner Branchen herausgebildet, wie beispielsweise in der Fahrzeugindustrie, der Verfahrenstechnik sowie in der Energiewirtschaft.
Unter den Mitarbeitenden des ITWM stellen Mathematiker*innen mit 56% Anteil am Personal die größte Fachgruppe:
Die Zahl der Mitarbeitenden am ITWM wächst dabei stetig:
Mathematik ohne Mathematiker*innen?
Es gibt auch Branchen, in denen man eine deutlich höhere Anzahl an Mathematiker*innen vermuten würde, als man sie tatsächlich vorfindet: Ein Beispiel hierfür wäre die deutsche Automobilindustrie, denn diese beschäftigt unterproportional wenige Mathematiker*innen. Dies liegt unserer Recherche nach wohl vor allem im systematischen Outsourcing von Entwicklungsabteilungen begründet. In Gesprächen mit Vertreter*innen der Automobilbranche wurde bestätigt, dass mathematische Forschung und Entwicklung häufig aus dem eigenen operativen Geschäft an Forschungseinrichtungen und Unternehmen mit einem Schwerpunkt in diesem Bereich ausgelagert werden. Prinzipiell gehen diese Tätigkeitsfelder dann nicht verloren, sondern finden sich nur an anderer Stelle wieder. Gleichwohl geht damit ein Verlust an mathematischer “Inhouse-Kompetenz” einher, der in Bezug auf die intrinsische Innovationsfähigkeit kritisch zu sehen ist.
Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt
1. Von den Unternehmen in die Forschungsinstitute
„Wie keine andere Wissenschaft hilft die Mathematik in unserer Branche, die unterschiedlichen Probleme zu lösen – und genau diese universelle Anwendbarkeit macht sie zur Königsdisziplin.“ (Daimler AG)
Die Mathematik als Königsdisziplin – diese Beschreibung entstammt der 2008 zum Jahr der Mathematik erschienen Berichtsammlung „Mathematik – Motor der Wirtschaft“, in welcher verschiedene deutsche Unternehmen beschreiben, welche Rolle die Mathematik bei ihnen einnimmt. Die Deutsche Bahn, Lufthansa, Boehringer Ingelheim, Siemens und nicht zuletzt Daimler gehörten zu den zwanzig Unternehmen, welche postulierten, dass ihr Geschäftsfeld ohne die Mathematik nicht möglich wäre.
Bei unserer Recherche fanden wir heraus, dass die betreffenden Unternehmen zwar immer noch genauso stark auf die Mathematik bauen, wie auch schon damals und dass sich bei manchen der Effekt durch die Digitalisierung sogar noch verstärkt hat. Was sich jedoch verändert hat, ist die Anzahl der Mathematiker*innen in den betreffenden Unternehmen bzw. das Ausmaß, in dem in den betreffenden Unternehmen selbst noch mathematische Forschung und Entwicklung stattfindet. Es scheint, als ob Mathematiker*innen im Bereich der mathematischen Forschung und Entwicklung in Unternehmen mittlerweile eher die Ausnahme als die Regel darstellen. Dies soll zwar erstmal nicht heißen, dass in den Unternehmen per se keine Mathematiker*innen mehr zu finden sind. Allerdings sind diese dann meist nicht mehr als „klassische Mathematiker*innen“ tätig, sondern nehmen eine Vielzahl anderer Tätigkeiten wahr, die mit Mathematik an sich oft gar nicht mehr viel zu tun haben. So sind zwar die im Studium erworbenen Kompetenzen, wie beispielsweise strukturelles und lösungsorientiertes Denken, weiterhin von großem Wert; die Relevanz der fachlichen Studieninhalte ist hingegen, je nach Position, im beruflichen Alltag nur noch gering.
Nur weil in einem Unternehmen die Mathematik eine tragende Rolle spielt, heißt dies also nicht unbedingt, dass dort auch Mathematiker*innen tätig sind. Dieses Bild deckt sich mit dem einiger führender Forschungsinstitute im Bereich der Mathematik, deren Auftragsvolumen aus der Industrie aufgrund solcher Auslagerungen von Aufträgen über die letzten Jahre rasant gewachsen ist, und legt die Vermutung nahe, dass dieser Effekt nicht nur in der Automobilindustrie zum Tragen kommt.
Diese Entwicklung lässt sich hervorragend anhand der Geschäftszahlen des Fraunhofer Instituts für Techno- und Wirtschaftsmathematik (ITWM) zeigen, denn deren Betriebshaushalt hat sich seit der Gründung des Instituts im Jahre 1995 mehr als verzwanzigfacht (von 1,64 Mio. € auf 34,0 Mio. € im Jahr 2021).[35] Allein im Geschäftsjahr 2020 konnten 225 Industrieprojekte mit 143 Partnern realisiert werden. Durchschnittlich kommen pro Jahr 37 Neukunden hinzu und bei 54% der Industrieaufträge handelt es sich bereits um Folgeprojekte. Die nachfolgende Grafik gibt einen guten Einblick in den stetigen Zuwachs des Betriebshaushalts, der nur im Coronajahr 2020 einen minimalen Rückgang verzeichnen musste.
Bei einem Blick auf die Zahlen des Fraunhofer Institut für Algorithmen und Wissenschaftliches Rechnen (SCAI) zeigt sich ein ähnliches Bild. Trotz der Pandemie hat das SCAI im Geschäftsjahr 2020 Wirtschaftserträge in Höhe von rund 6,8 Millionen Euro erzielt und damit die Gewinne der Jahre von 2018 und 2019 von jeweils rund 6 Millionen Euro nochmal übertroffen.[39] Das SCAI profitiert vor allem auch von den langfristigen Gewinnen aus der Lizenzierung der von SCAI entwickelten Softwarelösungen, vor allem PackAssistant (eine optimierte 3D Verpackungsplanung), AutoNester-T (eine automatische Schnittbildgenerierung), SAMG (ein algebraisches Mehrgitterverfahren) und MpCCI (zur Koppelung von Simulationsverfahren), denn diese generieren den überwiegenden Teil der Einnahmen. Der Anteil der Wirtschaftserträge des SCAI lag somit bei 45,3% des Betriebshaushalts und der Anteil aller externen Gesamterträge bei 72,7%. Wie auch beim Fraunhofer ITWM wird der restliche Betrag aus öffentlichen Mitteln finanziert.
Die Bedeutung der außeruniversitären Forschungsinstitute wird auch bei einem Blick auf die Unternehmensausgründungen des ITWMs deutlich. Ein Beispiel für ein erfolgreiches Spin-off stellt hier das Unternehmen Math2Market GmbH dar, welches 2011 als Ausgründung aus dem Fraunhofer ITWM entstand. Das Unternehmen entwickelt und vertreibt die wissenschaftliche Software GeoDict®, einen Materialsimulator mit denen Kunden über ein digitales Materiallabor verfügen, mit Hilfe dessen sie Werkstoff- und Materialentwicklung computergestützt simulieren können. Neben diesem Beispiel gibt es auch Ausgründungen, von denen vor allem die Öffentlichkeit profitiert, wie beispielsweise die Produktinformationsstelle Altersvorsorge gGmbH (PIA), eine neutrale Stelle, die im Auftrag des Bundesministeriums der Finanzen die Chancen-Risiko-Klassifizierung geförderter Altersvorsorgeprodukte übernimmt.
Interview mit einem Vertreter des Unternehmens Math2Market, einer exemplarischen Ausgründung des Fraunhofer ITWM Können Sie uns kurz schildern, wie es zur Ausgründung von Math2Market als eigenständiges Unternehmen aus der Fraunhofer Gesellschaft kam? Digitale Materialmodelle aus der 3D-Bildverarbeitung und die digitale Vorhersage von Materialeigenschaften durch numerisches Lösen partieller Differentialgleichungen und schlussendlich das digitale Design von Mikrostrukturen vor allem auf Basis von stochastischen Geometriemodellen sind bereits seit 2001 in der GeoDict Software gebündelt. 2011 waren dann so viele Tätigkeiten notwendig geworden, die nicht an ein Fraunhofer Institut gehören, dass die Kommerzialisierung innerhalb des Fraunhofer Instituts für Techno- und Wirtschaftsmathematik in Kaiserslautern an ihre Grenzen stieß. Dort war zu beobachten, dass es eine große Kluft zu überwinden gilt zwischen den Mathematiker*innen, die für viele Fragestellungen bereits Lösungen kennen, aber nicht die Anwendungen dazu, und den Anwender*innen, die diese guten Lösungen nicht kennen oder verstehen und daher nicht nutzen. Die Einsicht war, dass die Mathematiker*innen den Schritt auf die Anwender zu machen müssen, und nicht von allen Anwender*innen verlangen sollten, selbst die Mathematik zu lernen. Was ist die Mission von Math2Market, auch im Hinblick auf den Unternehmensnamen? GeoDict, das Hauptprodukt der Math2Market GmbH, macht die Nutzung der Mathematik so einfach, wir sagen „es demokratisiert diese Nutzung“, dass auch Nichtexperten diese Funktionalität nutzen wollen und können. Neben der Mathematik steckt in GeoDict auch viel Physik, Informatik, und natürlich Anwendungs-Knowhow aus vielen Ingenieurwissenschaften, etwa aus der Verfahrenstechnik und dem Chemieingenieurwesen, aber auch beispielsweise der Geologie. Den Expert*innen für die Softwareentwicklung einen Sammelplatz für die diversen Komponenten der Software zu geben, diese über einzelne Doktorarbeiten hinaus am Leben zu halten, und von der Kombination der einzelnen Fähigkeiten der Software eine Brücke zu den Anwender*innen zu schlagen war die Keimzelle für das Produkt und letztlich auch die Firma. Die Entwicklungsabteilung, die Algorithmen und das High Performance Computing bilden den „Math“-Teil des Firmennamens. Und die Vertriebs- und Anwendungsabteilungen schlagen innerhalb der Math2Market die Brücke zum „Market“, der auch durch die graphische Benutzeroberfläche der Software sichtbar wird. Unsere Kund*innen müssen nicht die Mathematik selbst lernen und programmieren, sondern die wird ihnen direkt nutzbar gemacht. Die Mission von Math2Market ist die Vereinfachung von Materialentwicklung und das Setzen neuer Standards durch die Nutzung digitaler Materialmodelle. Der Name des Unternehmens spiegelt unser Bestreben wider, mathematische Lösungen für Herausforderungen im Ingenieurwesen und in der Forschung und Entwicklung für viele industrielle Märkte bereitzustellen. Welche Rolle nimmt die Mathematik bei Math2Market ein? Math2Market besteht aus einem Expertenteam von hochqualifizierten Mathematiker*innen, Physiker*innen, Geolog*innen, Ingenieur*innen und Informatiker*innen. Unser Ziel ist es, mit unserer Software die Ergebnisse von Spitzenforschung auf universitärem Niveau für Nicht-Expert*innen nutzbar zu machen, was sich auch in der Anzahl der Mathematiker*innen widerspiegelt. Von den derzeit 38 Vollzeitbeschäftigten sind zehn Mathematiker*innen: fünf Promovierte, vier mit Master, ein habilitierter Professor. Wie schätzen Sie die Bedeutung der Mathematik für die deutsche Wirtschaft ein? Die Digitalisierung der Wirtschaft ist auch eine Mathematisierung der Wirtschaft in dem Sinne, dass die abstrakte, digitale Tätigkeit ein enormes Potential zur Standardisierung und dann Optimierung von Verfahren und in unserem Fall auch Werkstoffen hat. Allerdings muss dazu meist nicht Mathematik neu erfunden werden, sondern oft können bereits existierende mathematische Lösungen genutzt werden. Das Abstrahieren von realen Fragestellungen in mathematisch gut lösbare Formulierungen und der Rücktransfer der abstrakten Antwort auf die reale Fragestellung bilden dabei ein Bottleneck, dem nur durch die Ausbildung von Mitarbeiter*innen, Kund*innen, und zukünftigen Arbeitnehmer*innen in allen MINT-Themen, insbesondere der Mathematik, begegnet werden kann. |
2. Mangel an Mathematiker*innen
Laut dem Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) ist der Engpass bei Fachkräften das häufigste Hemmnis für Innovation.
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Im April 2022 waren laut dem Institut der deutschen Wirtschaft in allen MINT-Berufen rund 499.600 Stellen unbesetzt. Dem gegenüber standen 180.054 arbeitssuchende Personen, welche gerne im MINT-Bereich tätig wären.
„Unter Berücksichtigung des qualifikatorischen Mismatches resultiert für April 2022 eine über sämtliche 36 MINT-Berufskategorien aggregierte Arbeitskräftelücke in Höhe von 320.600 Personen. Dies ist die höchste Lücke für einen April seit dem Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2011. Mit 149.800 Personen bilden im April 2022 die MINT-Facharbeiterberufe die größte Engpassgruppe, gefolgt von 136.300 Personen im Segment der MINT-Expertenberufe sowie 34.400 im Segment der Spezialisten- beziehungsweise Meister- und Technikerberufe.“[43]
Auch wenn sich diese Zahlen auf den MINT-Arbeitsmarkt im Allgemeinen beziehen, sind sie dennoch auch für die Mathematik relevant, da diese unter den MINT-Arbeitnehmenden keine Sonderrolle einnimmt, sondern überwiegend mit den anderen Fachgruppen vergleichbar ist. Betrachtet man die von der Bundesagentur für Arbeit genannte Arbeitslosenquote von ca. 2,4% bei Mathematiker*innen in akademischen Berufen[45], so kann man auch davon ausgehen, dass diese hierbei zu einem signifikanten Teil auch auf qualifikatorischen Diskrepanzen beruhen oder anderen Gründen für Arbeitslosigkeit, die nicht primär auf ein mangelndes Angebot zurückzuführen sind. Diese Hypothese deckt sich auch mit den Rückmeldungen der für diese Studie befragten Arbeitgeber*innen im mathematischen Bereich.
3. Digitalisierung
Digitalisierungsstarke Branchen zählen für Mathematiker*innen zu den vielversprechendsten Arbeitsmärkten der Zukunft. Die Digitalisierung verändert nicht nur unsere Kommunikationsstrukturen, sondern führt auch zu stark veränderten Bedarfen im Hinblick auf mögliche Geschäftsmodelle und die dafür benötigten Arbeitskräfte und deren Qualifikationen:
- In einer Umfrage gaben 65,1 % der befragten Unternehmen an, dass die Digitalisierung für sie eine große bzw. eine sehr große Rolle spielt.
- Besonders ausgeprägt ist der Bedarf bei den unternehmensnahen Dienstleistern (mit 79,1% Digitalisierungsanteil) und in der Branche Großhandel/Logistik (68,0%). Die zunehmende Digitalisierung in allen Bereichen des Lebens durch die Coronapandemie wird diesen Effekt vermutlich über alle Branchen hinweg verstärken.
- In einem Zeitraum von knapp zehn Jahren stieg der Bedarf an IT-Fachkräften um 50%, bei IT-Spezialisten (Meister/Techniker) um 17,5% und bei den akademischen Berufen im IT-Bereich um sogar 96,9%.[46]
- Es wird erwartet, dass der Bedarf in Zukunft noch weiter steigen wird, da Unternehmen noch stärker auf datengetriebene Geschäftsmodelle setzen wollen. Als größtes Hemmnis wird hierfür immer wieder der Mangel an geeigneten Arbeitskräften genannt.
Diese Arbeitskräfte könnten insbesondere aus der Mathematik kommen, da Mathematik die Grundlage vieler Innovationen im Bereich der Digitalisierung darstellt. Nicht zuletzt aus diesem Grund hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Herbst 2021 den Start einer neuen Förderrichtlinie bekannt gegeben. Projekte auf dem Gebiet „Mathematik für Innovationen“ sollen einen Beitrag dazu leisten, den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen der Zukunft in den Bereichen Digitalisierung und Nachhaltigkeit bestmöglich begegnen zu können.[47]
„Die Mathematik ist eine Querschnittswissenschaft, die Innovationen für die Gesellschaft ermöglicht. Mathematische Lösungskonzepte tragen in fast allen Technologiebereichen maßgeblich zur Lösung komplexer Probleme bei. Dieses Potenzial mathematischer Neuerungen als Keimzelle für Innovationen soll genutzt werden.“[48]
4. Diversifizierung im Aktuariat
„Der Beruf des Aktuars wird in naher Zukunft noch vielfältiger, bunter und attraktiver als jemals zuvor. Als Produktentwickler, Berater von bAV[49]-Lösungen oder als Sparringspartner für Start-up-Unternehmen treiben sie die Innovationen im Versicherungswesen maßgeblich mit voran.“ (Dr. Guido Bader, stellvertretender DAV-Vorstandsvorsitzender).[50]
Der Bedarf an Aktuaren und Aktuarinnen ist groß. Dies zeigt auch unsere Analyse des mathematischen Stellenmarkts. Aktuar*innen werden sowohl im klassischen Tätigkeitsfeld des Versicherungswesens benötigt, aber auch im Umfeld von Banken und Unternehmen. Bereits in einer 2017 von der Deutschen Aktuarvereinigung e.V. (DAV) und der Deloitte Consulting GmbH durchgeführten Erhebung waren 62% der Befragten überzeugt, dass die Nachfrage nach Aktuar*innen auf dem Arbeitsmarkt steigt.[51] Derzeit sind laut der Deutschen Aktuarvereinigung e.V., der berufsständischen Vereinigung der Aktuar*innen in Deutschland, rund 1300 Personen in der Ausbildung zum Aktuar oder der Aktuarin. Pro Jahr legen rund 365 Personen die Abschlussprüfung ab und rund 320 davon werden in die DAV aufgenommen. Diese Zahlen sind über die Jahre relativ konstant geblieben und hier wird laut der Vereinigung vorerst keine Veränderung erwartet. Diese würde eintreten, wenn der derzeit stattfindende Meinungsbildungsprozess in der Vereinigung in Richtung einer Öffnung der DAV für weitere Interessierte führt. Dies wäre jedoch nicht vor dem Jahr 2024 zu erwarten.
Das klassische Aktuariat ist insbesondere von Mathematiker*innen geprägt, welche sich vor allem im Bereich der Versicherungs- und Finanzmathematik mit der Modellierung, Bewertung und Steuerung von Risiken befassen, meist auf Grundlage mathematisch-statistischer Methoden. Laut der Deutschen Aktuarvereinigung e.V. (DAV) sind ihre Mitglieder vor allem für „Versicherungsgesellschaften, Träger der Altersversorgung und berufsständische Versorgungseinrichtungen, Banken und Bausparkassen, Beratungs- und Wirtschaftsunternehmen, aber auch für Einzelpersonen, Verbände, Behörden, Ministerien, den Gesetzgeber, und als Sachverständige vor Gericht“ tätig.[52]
Die zunehmende Digitalisierung der Arbeitswelt macht auch vor dem Aktuariat nicht Halt:
- Rund 60% der Aktuar*innen gehen davon aus, dass sie in Zukunft enger mit Datenspezialist*innen zusammenarbeiten werden und dass sich ihr Aufgabenbereich erweitern wird.
- 65% der Befragten erwarten, dass klassische aktuarielle Standardaufgaben im Zuge des technischen Fortschritts durch automatisierte Prozesse übernommen werden könnten.
- 63% vermuten zudem auf Basis der aktuellen Entwicklung, dass ihre Aufgaben in Zukunft fachlich noch differenzierter und spezialisierter werden könnten.
- 25% der derzeitigen Aktuar*innen gehen davon aus, dass durch die anstehenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen auch eine Expansion des Aktuariats in neue Branchen möglich sein könnte.[53]
Zweifelsohne ist das Aktuariat für Mathematiker*innen ein wichtiger Arbeitsmarkt der Zukunft. Allerdings muss auch hier mit laufenden Veränderungen gerechnet werden, die von Aktuaren und Aktuarinnen ein hohes Maß an Flexibilität erfordern, sowie die Bereitschaft das klassische Berufsbild neu zu interpretieren. Während die traditionelle Aktuarausbildung nicht an Bedeutung verlieren wird und wichtige Grundsteine für die spätere Tätigkeit in diesem Berufsbild legt, darf aber auch eine frühzeitige Spezialisierung auf die Themen und Anforderungen der Zukunft nicht vernachlässigt werden.
5. Data Scientist – “The Sexiest Job of the 21st Century”?
“Data Scientist: The Sexiest Job of the 21st Century” – so lautete die Überschrift in einem Artikel des Harvard Business Review über den verhältnismäßig neuen Beruf des sogenannten Data Scientist.[54] In Anbetracht der explodierenden Datenmengen war es eine logische Konsequenz, dass sich ein Berufsfeld entwickelt, in dem die professionelle Aufarbeitung und Auswertung von unstrukturierten Rohdaten die Kernaufgabe darstellt. Das Ziel von Data Scientists ist, die Flut von Daten, welche beispielsweise ein Unternehmen von Kundenseite erhält, in betriebswirtschaftlich verwertbare Informationen und konkrete Handlungsempfehlungen zu verwandeln. Ein solches Unternehmen könnte ein Onlinehandel sein, welcher gerne herausfinden möchte, welche Produkte besonders häufig zurückgeschickt werden oder wo vielleicht die angegebenen Informationen zum Produkt nicht stimmig sind. Durch die Analyse von Data Scientists können somit die Kosten im Unternehmen reduziert und die Kundenzufriedenheit verbessert werden. Durch das Erstellen von Mustern aus den vorhandenen Daten könnte zudem zukünftiges Kundenverhalten vorausgesagt werden. Durch die enorme Bedeutung des E-Commerce werden Produktpersonalisierung, Kundenbeziehungsmanagement und auch die Risikoberatung von Unternehmen zu Arbeitsbereichen, in denen Mathematiker*innen besonders gefragt sind. Data Scientist helfen Unternehmen ihre Wirtschaftlichkeit zu optimieren, die Kundenbindung zu steigern und der Konkurrenz einen Schritt voraus zu sein.
“If ‘sexy’ means having rare qualities that are much in demand, data scientists are already there. They are difficult and expensive to hire and, given the very competitive market for their services, difficult to retain. There simply aren’t a lot of people with their combination of scientific background and computational and analytical skills.”[55]
Aufgrund des hohen Bedarfs an Data Scientists und der Herausbildung dieser Tätigkeit als eigenes Berufsfeld bieten mittlerweile auch einige Hochschulen den Studiengang Data Science an. Die Studieninhalte umfassen hierbei vor allem die Bereiche Softwareentwicklung, skalierbares Datenmanagement, maschinelles Lernen und statistische Datenanalyse sowie natürlich umfassende Grundlagen aus der angewandten Mathematik.
Der Beruf des Data Scientist unterliegt aufgrund der rasanten digitalen Transformation bereits dem ersten Wandel. Gerne wird auch jetzt schon vom Data Scientist 2.0 gesprochen, da hocheffiziente Analyse-Tools und die durch Künstliche Intelligenz, Deep Learning und Machine Learning entstehenden Möglichkeiten den Prozess der Datenanalyse verändern. Während noch vor zehn Jahren ein Data Analyst den Großteil seines Arbeitsalltags damit verbracht hat, die Daten erst einmal zusammenzutragen, können diese Prozesse mittlerweile oft teil- oder auch vollautomatisiert stattfinden. Umso wichtiger wird es, dass sich auch Data Scientists gemäß den Bedarfen einer bestimmten Branche spezialisieren und dass sie die nötigen Programmierkenntnisse mitbringen, um moderne Analysetools zu verwalten und weiterzuentwickeln.
FAZIT: (Kernthesen zum Mitnehmen)
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Ein Gastbeitrag von Ilka Agricola und Verena Reiter
Aktualisiert 2023.
[1] Helmut Neunzert. Mathematics in industry. In Mathematics and Society, 2010, 167-193, p. 167.
[2] Günter Törner, Britta Berndtsen and Joyce Peters-Dasdemir. Arbeitsmarkt für Mathematiker/innen. Mitteilungen der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, 27 (1), 2019, 26-31, p. 27.
[3] Christina Anger, Enno Kohlisch, Oliver Koppel and Axel Plünnecke. MINT-Frühjahrsreport 2022. Demografie, Dekarbonisierung und Digitalisierung erhöhen MINT-Bedarf – Zuwanderung stärkt MINT-Fachkräfteangebot und Innovationskraft. Gutachten für BDA, Gesamtmetall und MINT Zukunft schaffen. Institut der deutschen Wirtschaft, 2022, p. 88.
[4] Statistik der Bundesagentur für Arbeit. Berufe auf einen Blick. https://statistik.arbeitsagentur.de/DE/Navigation/Statistiken/Interaktive-Angebote/Berufe-auf-einen-Blick/Berufe-auf-einen-Blick-Anwendung-Nav.html;jsessionid=B201F8537E720903FC973F7F7CB55E65?
[5] Berichte: Blickpunkt Arbeitsmarkt – Akademikerinnen und Akademiker. Statistik der Bundesagentur für Arbeit, 04/2019, p. 82.
[6] Statistik der Bundesagentur für Arbeit. Berichte: Blickpunkt Arbeitsmarkt – MINT-Berufe. 08/2019, p. 33.
[7] Ibid., p. 11.
[8] Ibid., p. 12.
[9] Miriam Dieter, Törner. Zahlen rund um die Mathematik. 2010, p. 68.
[10] Christina Anger, Enno Kohlisch, Oliver Koppel, Axel Plünnecke. MINT-Herbstreport 2020. MINT-Engpässe und Corona-Pandemie: kurzfristige Effekte und langfristige Herausforderungen. Gutachten für BDA, BDI, MINT Zukunft schaffen und Gesamtmetall. Institut der deutschen Wirtschaft, 2020, p.7.
[11] Christina Anger, Enno Kohlisch, Oliver Koppel and Axel Plünnecke. MINT-Frühjahrsreport 2022. Demografie, Dekarbonisierung und Digitalisierung erhöhen MINT-Bedarf – Zuwanderung stärkt MINT-Fachkräfteangebot und Innovationskraft. Gutachten für BDA, Gesamtmetall und MINT Zukunft schaffen. Institut der deutschen Wirtschaft, 2022, p. 38.
[12] Wilfred Uunk, Loreen Beier, Alessandra Minello and Hans-Peter Blossfeld. Warum wählen Frauen seltener MINT-Studienfächer? Uni.vers Forschung, 2020, 32-35, p. 32.
[13] Ibid.
[14] Ibid., p. 34.
[15] Christina Anger, Enno Kohlisch, Oliver Köppel, Axel Plünnecke and Ruth Maria Schüler. MINT-Frühjahrsreport 2020. MINT – Schlüssel für ökonomisches Wohlergehen während der Coronakrise und nachhaltiges Wachstum in der Zukunft. Gutachten für BDA, BDI, MINT Zukunft schaffen und Gesamtmetall. Institut der deutschen Wirtschaft, 2020, p. 94.
[16] Christina Anger, Julia Betz, Axel Plünnecke. MINT-Frühjahrreport 2023. MINT-Bildung stärken, Potenzial von Frauen, Älteren und Zuwandern heben. Gutachten für BDA, Gesamtmetall und MINT Zukunft schaffen. Institut der deutschen Wirtschaft, 2023, p. 32.
[17] Christina Anger, Enno Kohlisch, Oliver Koppel and Axel Plünnecke. MINT-Frühjahrsreport 2022. Demografie, Dekarbonisierung und Digitalisierung erhöhen MINT-Bedarf – Zuwanderung stärkt MINT-Fachkräfteangebot und Innovationskraft. Gutachten für BDA, Gesamtmetall und MINT Zukunft schaffen. Institut der deutschen Wirtschaft, 2022, p. 106.
[18] Ibid., p. 119.
[19] Seit Jahrzehnten engagiert sich Marie-Françoise Roy neben ihrer Forschung und Lehre in Algebraischer Geometrie auch für die Frauenrechte in der Mathematik. Sie war 1987 Mitgründerin einer französischen Gesellschaft für Frauen in der Mathematik Femmes et Mathématiques und 1986 der European Women in Mathematics. Von 2004 bis 2007 war sie Präsidentin der Société Mathématique de France.
[20] Thomas Vogt. Frauen in der Mathematik. Thomas Vogt im Gespräch mit Marie-Françoise Roy. Mitteilungen der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, 28 (2), 2020. 82-85, p. 83.
[21] Ibid.
[22] Ibid.
[23] Ibid.
[24] Christina Anger, Enno Kohlisch, Oliver Koppel and Axel Plünnecke. MINT-Frühjahrsreport 2022. Demografie, Dekarbonisierung und Digitalisierung erhöhen MINT-Bedarf – Zuwanderung stärkt MINT-Fachkräfteangebot und Innovationskraft. Gutachten für BDA, Gesamtmetall und MINT Zukunft schaffen. Institut der deutschen Wirtschaft, 2022, p. 26.
[25] Ibid., p. 48.
[26] Rocío Lorenzo et al. The Mix that Matters. Innovation Through Diversity. Boston Consulting Group. http://media-publications.bcg.com/22feb2017-mix-that-matters.pdf.
[27] Günter Törner, Britta Berndtsen and Joyce Peters-Dasdemir. Arbeitsmarkt für Mathematiker/innen. Mitteilungen der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, 27 (1), 2019, 26-31, p. 26.
[28] Ibid., p.29.
[29] Deloitte. Mathematical sciences and their value for the Dutch economy. p. 12.
[30] Begutachtet wurden hierfür die Jobsuche von ZEIT online/academics.de, stepstone.de, jobvector.de sowie indeed.com.
[31] Absolventa. Gehalt im Bereich Mathematik. https://www.absolventa.de/jobs/channel/mathematik/thema/gehalt.
[32] AXA Konzern AG im Gespräch mit der DMV.
[33] Frauenhofer ITWM. Jahresbericht 2019/20. 2020, p. 9.
[34] Frauenhofer ITWM. Jahresbericht 2021/22. 2022, p 6.
[35] Fraunhofer ITWM. Daten & Fakten. https://www.itwm.fraunhofer.de/de/ueber-fraunhofer-itwm/im-profil/daten-fakten.html.
[36] Fraunhofer ITWM. Jahresbericht 2013/14. 2014, p. 16.
[37] Fraunhofer ITWM. Jahresbericht 2017/18. 2018, p. 6.
[38] Fraunhofer ITWM. Jahresbericht 2021/22. 2022, p. 6.
[39] Fraunhofer SCAI. Jahresbericht 2020/2021. 2021, p. 7.
[41] Fraunhofer SCAI. Jahresbericht 2022/2023. 2023, p. 7.
[41] Christina Anger, Enno Kohlisch, Oliver Koppel and Axel Plünnecke. MINT-Herbstreport 2020. MINT-Engpässe und Corona-Pandemie: kurzfristige Effekte und langfristige Herausforderungen Gutachten für BDA, BDI, MINT Zukunft schaffen und Gesamtmetall. Institut der deutschen Wirtschaft, 2020, p. 10.
[42] Christina Anger, Oliver Koppel, Axel Plünnecke, Enno Röben and Ruth Maria Schüler. MINT-Frühjahrsreport 2019. MINT und Innovationen – Erfolge und Handlungsbedarfe. Gutachten für BDA, BDI, MINT Zukunft schaffen und Gesamtmetall. Institut der deutschen Wirtschaft, 2019, p. 5.
[43] Christina Anger, Enno Kohlisch, Oliver Koppel and Axel Plünnecke. MINT-Frühjahrsreport 2022. Demografie, Dekarbonisierung und Digitalisierung erhöhen MINT-Bedarf – Zuwanderung stärkt MINT-Fachkräfteangebot und Innovationskraft. Gutachten für BDA, Gesamtmetall und MINT Zukunft schaffen. Institut der deutschen Wirtschaft, 2022, p. 5.
[44] Christina Anger, Julia Betz, Axel Plünnecke. MINT-Frühjahrreport 2023. MINT-Bildung stärken, Potenzial von Frauen, Älteren und Zuwandern heben. Gutachten für BDA, Gesamtmetall und MINT Zukunft schaffen. Institut der deutschen Wirtschaft, 2023, p. 4.
[45] Statistik der Bundesagentur für Arbeit. Berichte: Blickpunkt Arbeitsmarkt – Akademikerinnen und Akademiker., 04/2019, p. 82.
[46] Christina Anger, Enno Kohlisch and Axel Plünnecke. MINT-Herbstreport 2021. Mehr Frauen für MINT gewinnen – Herausforderungen von Dekarbonisierung, Digitalisierung und Demografie meistern, Gutachten für BDA, MINT Zukunft schaffen und Gesamtmetall. Institut der deutschen Wirtschaft, 2021, p. 21.
[47] Bundesministerium für Bildung und Forschung. Bekanntmachung. 4.10.2021- 8.12.2021. https://www.bmbf.de/bmbf/shareddocs/bekanntmachungen/de/2021/10/2021-10-04-Bekanntmachung-Mathematik.html.
[48] Ibid.
[49] Betriebliche Altersvorsorge
[50] Die Gehaltsstudien der DAV. Gehaltsstudie 2017. Aktuare online, https://aktuar.de/unsere-mitglieder/gehaltsstudie/Seiten/default.aspx.
[51] Ibid.
[52] Das Berufsbild der Aktuare. Aktuare online, https://aktuar.de/unsere-mitglieder/berufsbild-des-aktuars/Seiten/default.aspx.
[53] Die Gehaltsstudien der DAV. Gehaltsstudie 2017. Aktuare online, https://aktuar.de/unsere-mitglieder/gehaltsstudie/Seiten/default.aspx.
[54] Thomas H. Davenport and DJ Patil. Data Scientist: The Sexiest Job of the 21st century. Harvard Business Review, 10/2012, https://hbr.org/2012/10/data-scientist-the-sexiest-job-of-the-21st-century.
[55] Ibid.