Vor 150 Jahren, am 18. Mai 1872, wurde der Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell geboren. Er gilt als einer der einflussreichsten Intellektuellen seiner Zeit. Die von ihm formulierte Russell’sche Antinomie markiert eine Zäsur in der Geschichte der Logik und sein (zusammen mit Alfred North Whitehead verfasstes) Hauptwerk Principia Mathematica über mathematische Grundlagenforschung zählt zu den bedeutendsten Lehrbüchern des zwanzigsten Jahrhunderts. Er hatte Einfluss auf zahlreiche andere Mathematiker, Logiker und Philosophen, unter ihnen Ludwig Wittgenstein, Kurt Gödel und die Philosophen des Wiener Kreises.

Russell jungBertrand Arthur William Russell, 1907

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Auch setzte sich der Pazifist Russell zeitlebens für Frieden und soziale Gerechtigkeit ein; er war Atheist, Rationalist und redegewandter Advokat für den sozialen Fortschritt. Er setzte sich für Frauen- und Homosexuellenrechte und die Rechte von Kindern ein, plädierte für einen gesetzlichen Mindestlohn und warb im Kalten Krieg unter anderem in seiner Funktion als Präsident der Campaign for Nuclear Disarmament für nukleare Abrüstung. 1950 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen.

Frühe Jahre

Bertrand Arthur William Russell entstammte einer einflussreichen englischen Adelsfamilie. Sein Großvater, John Russell, war britischer Premierminister. Er wuchs in einem liberalen Umfeld auf, seine Eltern gehörten zu dem radikalliberalen Flügel der Whig-Partei und der liberale Ökonom und Philosoph John Stuart Mill war sein Pate. Nach dem frühen Tod seiner Eltern kam Bertrand in die Obhut seiner Großeltern und wuchs auf dem Großelterlichen Anwesen in Richmond Park bei London auf. Der privat unterrichtete Russell hatte wenig Kontakt zu Altersgenossen und litt in seiner Jugend an Depressionen.

1890 studierte er in Cambridge Mathematik, wo er unter anderem seinen späteren Ko-Autor und Freund Alfred North Whitehead, den Logiker George Edward Moore und den Ökonomen John Maynard Keynes kennenlernte. Bereits zu seinen Studienzeiten begann er sich für die noch junge Disziplin der Logik zu interessieren, da ihm weder die klassische Mathematik noch die klassische Philosophie zusagten.

Während eines Aufenthalts in Paris, wo er, dem Wunsch seiner Familie entsprechend, eine Anstellung in der britischen Botschaft innehatte, lernte er auf dem internationalen Mathematikerkongress 1900 den Italiener Guiseppe Peano kennen, der sich durch die Formulierung der nach ihm benannten Peano-Axiome zur logisch stringenten Konstruktion der natürlichen Zahlen einen Namen gemacht hat. Inspiriert durch Peanos Arbeiten, beschloss er, entgegen dem Willen seiner Familie, sich der mathematischen Grundlagenforschung zuzuwenden.

Ein Paradoxon geht um die Welt

Russell beschäftigte sich intensiv mit den mengentheoretischen Arbeiten Cantors, sowie mit den Arbeiten der frühen Logiker Frege und Zermelo. 1901 entdeckte er ein Paradoxon, das die Logik in ihren Grundfesten erschüttern sollte: Die Russellsche Antinomie, die er 1903 in seinem Buch Principles of Mathematics (nicht zu verwechseln mit seinem späteren Hauptwerk, der Principia Mathematica) veröffentlichte. Die von Russell postulierte Nichtexistenz einer Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten, bedeutete das jähe Ende der heute naive Mengenlehre genannten frühen Mengentheorie.

BarbierDarf sich ein Barbier, der jeden rasiert, der sich nicht selbst rasiert, selbst rasieren?

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Um die Paradoxie dieser (Nicht-)Menge zu illustrieren, greift Russell auf folgende Analogie zurück: Man stelle sich einen Barbier in einer Kleinstadt vor, der mit dem Slogan Ich rasiere jeden, der sich nicht selbst rasiert um neue Kundschaft wirbt. Russell stellt nun die Frage, ob der Barbier sich selbst rasieren dürfe: Wenn sich der Barbier selbst rasiert, dann darf er sich, seiner Ankündigung nach, nicht selbst rasieren. Wenn sich der Barbier jedoch nicht selbst rasiert, so gehört er zu den Leuten, die von dem Barbier rasiert werden. Ein Widerspruch war geboren.[1]

Russells Paradoxon zeigte auf, dass der von Cantor definierte Mengenbegriff als eine Zusammenfassung von bestimmten wohlunterschiedenen Objekten unserer Anschauung oder unseres Denkens zu einem Ganzen nicht uneingeschränkt benutzt werden darf.

Seine Veröffentlichung schlug hohe Wellen in der Gelehrtenwelt. Der Philosoph Gottlob Frege, der mit seiner Begriffsschrift 1879 einer der ersten war, die sich bemühten, die Arithmetik auf eine logisch fundierte Grundlage zu stellen, sah durch die Russellsche Antinomie sein Werk zerstört und bemerkte 1903 in einem Nachwort: „Einem wissenschaftlichen Schriftsteller kann kaum etwas Unerwünschteres begegnen, als daß ihm nach Vollendung einer Arbeit eine der Grundlagen seines Baues erschüttert wird. In diese Lage wurde ich durch einen Brief des Herrn Bertrand Russell versetzt, als der Druck dieses Bandes sich seinem Ende näherte.“

Ernst Zermelo, der die Antinomie unabhängig von Russell gefunden hatte, begegnete ihr mit der Formulierung seiner Axiome zur Mengentheorie, in der die Mengenbildung durch das Aussonderungsaxiom eingeschränkt wird. Das später von Fraenkel erweiterte Axiomensystem, die Zermelo-Fraenkel Mengenlehre, ist heute, mit oder ohne Auswahlaxiom, das weitläufig akzeptierte und verwendete Axiomensystem für die moderne Mengenlehre (und damit für den Großteil der heutigen Mathematik).

WittgensteinLudwig Wittgenstein, 1910

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Ein weiterer von Russells Arbeiten beeinflusster Philosoph war der Österreicher Ludwig Wittgenstein, dessen Doktorvater Russell 1911 war. Wittgensteins wegweisendes philosophisches Frühwerk Tractatus Logico Philosophicus war stark von der Russell‘schen Philosophie geprägt und gilt als Schlüsselwerk der analytischen Philosophie. Mit Wittgenstein, für dessen Tractatus er das Vorwort verfasste, verband Russell eine langjährige Freundschaft. In seiner Arbeit, so Wittgenstein, habe er nicht nur die Russelsche Antinomie lösen können, sondern auch alle anderen philosophischen Probleme, die er als sprachliche Missverständnisse charakterisierte. Er zog sich nach der Veröffentlichung des Tractatus für viele Jahre aus der Philosophie zurück.

Russell selbst versuchte, seiner Antinomie mit der von ihm Entwickelten Typtheorie beizukommen. Er ordnete Mengen in eine von ihm Typen oder Typisierung genannte Hierarchie ein: Eine Menge eines gewissen Typs darf dabei nicht Element einer Menge niederen Typs sein. Die Typtheorie wurde die Grundlage seiner Versuche, die Arithmetik logisch zu begründen. Seine Arbeiten zur Typtheorie mündeten in der Veröffentlichung der dreibändigen Principia Mathematica 1910, 1912 und 1913, in denen er und sein Ko-Autor Whitehead ein System von Axiomen und Schlussregeln formulierten, aus dem alle wahren Sätze der Mathematik logisch ableitbar sein sollten. Obwohl das Projekt wegen der 1931 veröffentlichen Gödelschen Unvollständigkeitssätze prinzipiell zum Scheitern verurteilt war, gilt die Principia als eines der wegweisendsten und einflussreichsten mathematischen Werke und als Wendepunkt in der Geschichte der Logik.

Krieg und Frieden

Einen Wendepunkt in Russells Leben stellte der Ausbruch des ersten Weltkrieges 1914 dar. Russell, der schon zu Anfang seines Studiums eine progressive politische Einstellung hatte, wurde ein lautstarker Verfechter des Pazifismus und sprach sich öffentlich gegen eine Kriegsbeteiligung Großbritanniens und für Kriegsdienstverweigerung aus. Das Verteilen von pazifistischen Flugblättern kostete ihn seine Professur in Cambridge. Später wurde er wegen weiterer pazifistischer Agitationen für sechs Monate inhaftiert. In Haft arbeitete er an seinem Buch Introduction to Mathematical Philosophy.

SchoolAus einem Zeitungsartikel zur Beacon Hill School. Links im Bild Russell und Dora Black

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In der Zwischenkriegszeit manifestierten sich Russels progressiven Ideale, nicht zuletzt durch seine Beziehung zur Feministin, Friedensaktivistin und Autorin Dora Black, mit der er bis in die 1930er Jahre liiert war. Anfang der 1920er Jahre bereiste er mit ihr die Sowjetunion, Japan und China. 1927 gründeten sie gemeinsam die libertäre, reformpädagogische Beacon Hill School. Black und Russell führten eine offene Beziehung, ein im frühen zwanzigsten Jahrhundert skandalträchtiger Lebensentwurf. Entsprechend laut war der öffentliche Aufschrei, den sein 1929 veröffentlichtes Buch Marriage and Morals hervorrief, eine sexualethische Abhandlung über die Ehe im viktorianischen England, in der er sich unter anderem für Polyamorie aussprach.

Ebenfalls in die Zwischenkriegszeit fällt Russells vermehrte Beschäftigung mit Religion. In seinem Essay Why I am not a Christian von 1927 kritisiert Russell die klassischen Gottesbeweise aus logischer Perspektive und greift christliche Moralvorstellungen an. Sinnbildlich für Russells Religionskritik steht die sogenannte Russellsche Teekanne aus einem Aufsatz aus dem Jahr 1951: So wie die Theisten von den Atheisten einen Beweis für die Nichtexistenz Gottes einforderten, spottete Russell, könne man die Existenz eine Teekanne, die den Jupiter umkreise, postulieren, und die Beweislast jenen oktroyieren, die die Existenz dieser Teekanne anzweifeln.

In den späten 1930er Jahren plädierte er, wie viele liberale und progressive Kräfte im Vereinigten Königreich, für eine Appeasementpolitik gegenüber dem Naziregime. Erst 1940, angesichts des Überfalls auf Polen und der Einnahme Frankreichs änderte er seine Haltung und wurde Befürworter des Kriegseinsatzes der Royal Army. In Bezug auf seine einstmals radikal pazifistische Haltung resümierte Russell, der zwischenzeitlich in den USA lebte: „War was always a great evil, but in some particularly extreme circumstances, it may be the lesser of two evils“.

Späte Jahre

1945 veröffentlichte Russell das Buch A History of Western Philosophy. Das Kompendium wurde ein vor allem in monetärer Hinsicht großer Erfolg und sicherte ihm bis an sein Lebensende eine finanzielle Unabhängigkeit – die Kritik nahm das Buch hingegen mit gemischter Resonanz auf.

Nach Kriegsende wurde Russell ein prominentes Gesicht in der Friedensbewegung. Er war Präsident der von ihm mitgegründeten Campaign for Nuclear Disarmament, einer Organisation, die sich im vereinigten Königreich für Frieden und nukleare Abrüstung einsetzte. Zusammen mit Albert Einstein und anderen namhaften Wissenschaftlern verfasste er 1955 das Russell-Einstein-Manifest, in dem an die Verantwortung von Wissenschaft und Forschung appelliert wurde.

Russell als PazifistRussell (Bildmitte) auf einer Friedensdemonstration

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In der Kubakrise 1962 spielte er eine wichtige Rolle in der Abwendung des dritten Weltkrieges, in dem er Telegramme an John F. Kennedy, Chruschtschow, den UN-Generalsekretär Sithu U Thant und den britischen Premier Harold Macmillan sandte und für eine friedliche Beilegung des Konfliktes warb.

Russell war ein entschiedener Gegner des Vietnamkriegs. Er rief 1966, im Alter von 94 Jahren, das Russell-Tribunal ins Leben. Es handelte sich dabei um ein Forum bekannter Friedensaktivisten, unter ihnen Simone de Beauvoir, Jean-Paul Sartre, Günther Anders und Peter Weiss, das sich zur Aufgabe gemacht hat, amerikanische Kriegsverbrechen in Vietnam aufzudecken und zu dokumentieren.

Russell altBertrand Russell, 1957

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Am 2. Februar 1970 starb Bertrand Russell mit 97 Jahren an einer Grippe.

Er war Ehrenmitglied in einer Vielzahl Wissenschaftlicher Gesellschaften und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Nobelpreis für Literatur (1950) und dem Jerusalem-Preis für die Freiheit des Individuums in der Gesellschaft.     

Konrad Krug

 

[1] Übertragen auf die Formulierung einer Menge von Mengen, die sich nicht selbst enthalten, hieße das: Enthielte jene Menge sich selbst, so würde sie sich selbst nicht enthalten; enthielte sie sich nicht, so enthielte sie sich definitionsgemäß doch.

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